Süddeutsche Zeitung

Debatte über Reiseboykott:Auf in die Türkei

Seit dem Putschversuch vor einem Jahr befindet sich das Land auf einer Schussfahrt zur Diktatur. Wer aber wegen Erdoğan nicht mehr dorthin reisen will, sollte noch einmal nachdenken.

Kommentar von Detlef Esslinger

Neulich, in der Türkei, am ersten Abend in dem nur knapp zur Hälfte belegten Hotel an der Ägäis. Der Kellner erkannte die Stammgäste, die soeben angekommen waren. Er fragte, selbstverständlich auf Deutsch, wie es ihnen geht. "Gut", antworteten sie, was sonst, und sie fragten zurück: auch gut? Die Antwort bestand darin, dass der Kellner verlegen zur Seite schaute. Spätestens in einem solchen Moment ist das Thema geklärt, ob es richtig sein soll, die Ferien in einem Land wie der Türkei zu verbringen.

An diesem Samstag vor einem Jahr versuchten Teile des Militärs einen Putsch gegen den Präsidenten Erdoğan. Spätestens seither befindet sich das Land auf einer Schussfahrt in die Diktatur - und wer schon zuvor, nach mehreren Terroranschlägen, an diesem Reiseziel gezweifelt hatte, seine Ängste aber auf gar keinen Fall zugeben wollte, der hat nun einen überaus gesellschaftsfähigen Grund, die Türkei zu meiden. Am Badestrand im Ausnahmezustand? Die Vorsitzende der Linken erklärt dies für ebenso unmöglich wie der Moderator der "Heute-Show". Vor zwei Jahren reisten noch 5,6 Millionen Deutsche in das Land, 2016 noch knapp vier Millionen, und dieses Jahr dürften es nochmals ein bis zwei Millionen weniger sein. Die Metapher von der Schussfahrt in die Diktatur fiel übrigens einem früheren Vorstandsmitglied der Tui ein.

Gegen Angst vor islamistischem Terror lässt sich kaum argumentieren. Es ist zwar unlogisch: Selbstmordattentate in Istanbul, nahe der Blauen Moschee und auf dem Atatürk-Flughafen, halten die Leute nicht nur von Reisen nach Istanbul ab. Sondern das gesamte riesige Land scheint ihnen plötzlich riskant zu sein.

Türkei-Urlauber bekommen keinen "Schönen Urlaub!" mehr zugerufen

Hingegen können Attentate in London, Paris und Nizza (letzteres genau am 14. Juli vor einem Jahr) dem Tourismus in diesen Städten kaum etwas anhaben. Doch so ähnlich war es schon immer: Die Erde bebt im Norden der Türkei? Die Hoteliers an der Südküste bekommen es zu spüren. Die Erde bebt irgendwo in Italien? Die Leute fahren trotzdem in die Toskana. Ob die Menschen unbeeindruckt oder ängstlich reagieren, hat wenig mit Logik zu tun. Und so bekommen manche der relativ selten gewordenen Türkei-Urlauber von der Verwandtschaft keinen "Schönen Urlaub!" mehr zugerufen, stattdessen wird ihnen jetzt eine SMS hinterhergeschickt: ob sie hoffentlich gut angekommen seien? Mit der Betonung auf hoffentlich.

Aber: Die Türkei jetzt wegen Erdoğan meiden und nicht aus Angst? Unbestritten, der Mann ist alles andere als einladend, das sind schreiende Gefängniswärter nirgendwo. Ein Staatspräsident, der der Bundeskanzlerin "Nazi-Methoden" vorwirft; ein Staatspräsident, der Journalisten als Geiseln hält; ein Staatspräsident, der sich nicht zu blöd ist, wegen eines Jan-Böhmermann-Gedichts durch die Instanzen zu gehen. Es gibt sonst kaum Politikthemen, bei denen die Deutschen wirklich so gut wie alle einer Meinung sind, ob sie nun der AfD oder den Grünen zuneigen. Aber dass es richtig war, Erdoğan vor seinem Referendum sowie nach dem G-20-Gipfel keinen öffentlichen Auftritt hier zu gestatten - das findet fast jeder. Krawallmacher gab es in Hamburg schließlich schon genug.

Die Idee indes, ein ganzes Volk zu meiden, weil einem dessen Herrschende zuwider sind: Die ist weder neu, noch nur im Fall der Türkei zu beobachten. Lion Feuchtwanger ließ im "Erfolg", vor fast 90 Jahren, einen Berliner sagen, aus Protest gegen Justizwillkür in München: "Man soll nicht nach Bayern zum Landaufenthalt gehen. Wenn sie es am Fremdenverkehr merken, werden sie keine solchen Zicken mehr machen." Die britische Band Radiohead wird derzeit von Prominenten wie Ken Loach, Roger Waters und Desmond Tutu beschuldigt, sich mit einem Konzert in Tel Aviv auf die Seite "des Unterdrückers" Netanjahu zu stellen.

Die Küste der Türkei ist Oppositionsland

Was für ein Quatsch. Wer all diejenigen Urlaubsziele von seiner Liste streichen würde, in denen Autokraten und Despoten die Macht haben, für den kämen recht viele Länder nicht mehr in Betracht; zum Beispiel auch Thailand, Vietnam und Bali (also Indonesien) nicht. Sie alle finden im Jahresbericht von Amnesty International ausführlichst Erwähnung. Der Unterschied zur Türkei ist, dass Prayut Chan-o-cha nicht so täppisch ist, mit der halben Welt Streit anzuzetteln; deshalb kennt kein Phuket-Urlauber diesen Putschisten, der seit drei Jahren Thailand regiert.

Wer aber umgekehrt lieber dort Urlaub machen will, wo Demokraten die Mehrheit bilden - der sollte unbedingt in die Türkei ans Meer fahren; jedenfalls eher als nach Südfrankreich. Selbst nach Erdoğans Zählung haben beim Referendum im April sämtliche Küstenprovinzen (von Istanbul über Antalya bis an die syrische Grenze) mehrheitlich gegen den Präsidenten gestimmt. Die Küste ist Oppositionsland. Die Côte d'Azur, die Provence und Korsika wiederum sind in Frankreich nicht unbedingt die Gegenden, die Macron zum Präsidenten gemacht haben. Dort siegte im ersten Wahlgang überall Marine Le Pen vom Front National.

Es war schon immer eine Anmaßung, sich einzubilden, der private Reiseboykott könne ein Mittel sein im Kampf gegen das, was bei Feuchtwanger "solche Zicken" hieß. Reiseboykott führt dazu, dass man Menschen alleine lässt, die sich ohnehin schon sehr alleine fühlen. Man vergrößert die Sorgen des Kellners, der schon immer gegen Erdoğan war und kaum noch weiß, wie er seine Familie durchbringen soll. Man fiele als Ansprechpartner für den Mann am Hafenkiosk aus, der einem unbedingt berichten will, dass neulich eine Bekannte in der Nacht von der Polizei abgeholt wurde, weil sie etwas getwittert hatte. Man würde dem Autokraten sein Geschäft erleichtern. Er hätte sein Volk buchstäblich für sich alleine, hinter der ökonomischen und ideellen Mauer.

In der Kunst gehe es darum, offen zu sein, und nicht verschlossen. Das hat Thom Yorke, der Sänger von Radiohead, den Gutmeinenden geantwortet, die ihn tatsächlich von dem Konzert am nächsten Mittwoch in Israel abbringen wollen. "In einem Land zu spielen bedeutet nicht, seine Regierung zu unterstützen." Genauso verhält es sich mit dem Reisen.

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Quelle:
SZ vom 15.07.2017
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