Ureinwohner ohne Fürsprecher:Schrumpfende Inseln

Hinweis der Redaktion

Die Recherchereisen für diese Ausgabe wurden zum Teil unterstützt von Veranstaltern, Hotels, Fluglinien und/oder Tourismus-Agenturen.

Costa Ricas Indios sind nahezu rechtlos im eigenen Land. Trotz eines Gesetzes zum Schutz der Indigenen nehmen weiße Unternehmer ihre Gebiete in Besitz.

Von Sven Weniger

Über 500 Jahre ist es her, seit Kolumbus seinen Fuß auf den amerikanischen Kontinent setzte. 500 Jahre der Eroberung, Kolonisierung, Ausbeutung. Dass sich daran bis heute wenig geändert hat, lernt man, wenn man mit Vertretern der indigenen Bevölkerung spricht in Costa Rica. Etwa 100 000 Indios - spanisch Indígenas - leben dort noch, versteckt in 24 Reservaten, entlegenen, schwer zugänglichen Waldgebieten, die meisten im Südosten des Landes auf einer Fläche von etwa sieben Prozent des Staatsgebiets. Man sieht und hört nichts von ihnen, der Tourist nicht und auch nicht die überwiegend weiße Bevölkerung der Kaffeerepublik. Entsprechend wenig wissen die Ticos, wie sich die Costa Ricaner selbst nennen, über das Leben der Ureinwohner ihres Landes.

"Die Leute hier haben keine Ahnung, wo und wie die Indios leben und kennen deren Kultur nicht", beklagt José Paniagua, Direktor für Territoriale Studien in der Comisión Nacional de Asuntos Indígenas (Conai). "Selbst in Universitäten werde ich von Studenten und Lehrern immer wieder gefragt, ob die Indios noch nackt herumlaufen. Man hält sie für minderwertig und dumm." Conai ist die offizielle Vertretung der Indígenas. Seit 1977 das Gesetz zum Schutz der Indios (Ley Indígena) verabschiedet wurde, versucht sie, ihrer gesetzlichen Aufgabe nachzukommen: Gesundheits-, Erziehungs- und Ausbildungsprogramme für die Indios zu entwickeln, ihre Traditionen zu sichern, die Landwirtschaft zu modernisieren. Vor allem aber will Conai ihr Hauptziel erreichen: den Ureinwohnern Costa Ricas die ausgewiesenen Reservate zurückzugeben. Auch mehr als 40 Jahre später kann davon keine Rede sein.

Seit ihrer Gründung kämpft die Conai ums Überleben. Anders als im Gesetz vorgesehen, verweigern staatliche Stellen kontinuierlich eine Zusammenarbeit mit der Organisation. Ob Erziehungs- oder Gesundheitsministerium, die Absagen lauten immer gleich: Es gebe kein Geld und kein Personal. "Noch keine Regierung hat Conai wirklich unterstützt", sagt Paniagua verbittert. "Wie sollen wir unserer Aufgabe als Initiator von Hilfsprojekten nachkommen, wenn die anderen Institutionen nicht mitziehen, wenn ständig das Geld fehlt?"

Holzwirtschaft, Bergbau und Staudämme sind den Politikern wichtiger als Ureinwohner

Etwa 700 000 Euro stehen der Organisation jährlich zur Verfügung, fast 90 Prozent davon werden für die Gehälter ausgegeben. Die Conai verbrenne, sagt Paniagua, ihren Etat für ihren Unterhalt. Für Projekte bleibt da nichts übrig. Auch die Überlebensgrundlage der Indígenas, die Unantastbarkeit ihrer Reservate, ist gefährdet. Zwar dürfen Weiße kein Land von Indios erwerben. Doch als bei Inkrafttreten der Ley Indígena die Reservate abgesteckt wurden, gab es dort bereits weiße Siedler. Diese sollten, dem Gesetz entsprechend, enteignet und entschädigt, das Land an die Indios übergeben werden. Das scheiterte bis heute großenteils am chronischen Geldmangel. Darüber hinaus kommt es immer wieder zu unrechtmäßiger Landnahme in den schwer zu kontrollierenden Gebieten. Wilde Siedler roden große Teile des Baumbestandes für ihre Viehherden und schaffen Tatsachen. Früher mussten die Indios sie in langwierigen Verfahren wieder hinausklagen. Mittlerweile ist dies Aufgabe des Staates, der aber kaum Interesse zeigt, Druck zu machen. Gut drei Viertel von Costa Ricas Regenwald sind bereits abgeholzt, für Kaffee- und Bananenplantagen, vor allem aber für die Rinderhaltung.

Methode vermutet denn auch Paniagua hinter der ständigen Aushöhlung der Ley Indígena. Da die Indios in Costa Rica nicht gut organisiert und als Wahlvolk unerheblich seien, könnten sie auch keinen politischen Druck ausüben. Und wirtschaftliche Interessen hätten noch immer alle anderen dominiert. Holzwirtschaft, Bergbau und Energiegewinnung in den wasserreichen Urwäldern seien den Politikern wichtiger als Umwelt- und Minderheitenschutz. Immer wieder kommt es daher zu Protesten der indigenen Bevölkerung. Wie 2011 der Bribri, deren Territorium Kekoldi, ein dichtes Dschungelgebiet, noch immer zu zwei Dritteln unter Kontrolle weißer Ticos und von Ausländern ist.

Wie kleine Inseln verteilen sich die Reservate auf der Landkarte Costa Ricas, die meisten von ihnen im Südosten, im unwegsamen Bergland an der Grenze zu Panama. In Osa zum Beispiel, einer kaum erschlossenen paradiesischen Halbinsel an der Pazifikküste, wären nur wenige zehntausend Dollar nötig, um das Land vollständig in den Besitz der Indios zu bringen. In anderen Reservaten fehlen dafür Millionen. Jedes Jahr nimmt der Wert des Landes zu und damit die Chance für Conai, es zu erwerben, ab. Die Inseln schrumpfen.

Da die Ureinwohner kein unabhängiges Leben mehr führen können, steht Conai vor der fast unlösbaren Aufgabe, sie behutsam mit der westlichen Wirtschaft vertraut zu machen, ohne dass sie dort sogleich übervorteilt werden. Doch sind Handel und landwirtschaftliche Produktion über den Eigenbedarf hinaus den traditionellen Selbstversorgern nur schwer vermittelbar. Der klassische Satz eines indigenen Landbewohners laute: "Warum soll ich heute zwei Fische fangen, wenn ich heute nur einen esse." "Indígenas", sagt Paniagua, "neigen von Natur aus dazu, nur das für ihren Lebensunterhalt Notwendige zu beschaffen. Sie sehen sich nicht als Kaufleute."

Dennoch erliegen auch sie dem Charme technischer Errungenschaften wie Strom, Fernsehen und Handys. Und die gibt es nicht umsonst. Ein funktionierendes Schulsystem und eine Gesundheitsversorgung sind zudem in den entlegenen Landstrichen schwer zu organisieren. Weiße Lehrer und Ärzte sind für den Job nicht zu bekommen, und die wenigen indigenen Lehrer schlecht ausgebildet. Nach sechs Jahren Grundschule fehlen die Mittel, die Kinder auf weiterführende Schulen zu schicken. Aus Mangel an Büchern verlernen sie mit der Zeit selbst das Lesen wieder, und das mühsam Erworbene geht verloren. Diejenigen, die es tatsächlich zum Universitätsabschluss bringen, bleiben in der Hauptstadt San José' um Karriere zu machen. José Paniagua beklagt die mangelnde Solidarität unter den Indios. Obwohl sie alle in einem sinkenden Boot säßen, spalteten sie sich verunsichert und ratlos in oft gegeneinander agierende Grüppchen auf, die versuchen, jeweils das Beste für sich herauszuholen. Jeder rudere in eine andere Richtung, und die Schlauen nutzten die Schwachen aus. Auch im Führungsteam der Conai sitzen nur Nichtindios.

Weil vom Staat keine Hilfe zu erwarten ist, sucht Conai händeringend den Kontakt zu ausländischen Hilfsorganisationen, die bereit sind, die gut konzipierten Projekte finanziell zu unterstützen. Denn die Zeit wird knapp. Der Lebensraum der Indígenas wird immer kleiner. Ihre Zahl ist schon fast zu klein, um sich als Volk gegenüber den vielen Nichtindios zu behaupten. Veränderung der Landschaft und Übernahme fremder Lebensweisen zersetzen die Indiokultur. Still und ohne Schlagzeilen werden sie wohl einst verschwunden sein, eine Fußnote in der Menschheitsgeschichte.

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