Upcycling:In die Kiste

Nahe Rostock hat Deutschlands erstes Upcycling-Hotel eröffnet. Die Einrichtung besteht aus Sperrmüll.

Von Thomas Hahn

Eine Schatzkiste ist ein besonderer Ort. Wer in einer übernachten darf, sollte genau hinschauen. Jedem Detail dort kann ein eigener Zauber innewohnen, und auch in dieser hier, die im Hotel "Alles Paletti" am Rande des Erlebnisdorfes Rövershagen bei Rostock steht, ist nur auf den ersten Blick alles normal. Die Deckenlampe spendet Licht, die Handtücher liegen ordentlich im Regal, eine Leiter führt zum Hochbett. Aber der zweite Blick verrät: Die Deckenlampe ist ein Einkaufskorb, das Handtuchregal ein Schlitten, die Leiter besteht aus Stühlen. Es ist, als hätte jemand die Gegenstände des Alltags in etwas anderes verwandelt.

Das Hotel "Alles Paletti" ist die neueste Attraktion im erlebnisgastronomischen Angebot des Erdbeeranbaubetriebs Karls, eine Familienunterkunft mit seltenem Flair und Nachhaltigkeitsanspruch. Manchem Reisenden mag das etwas zu fantastisch vorkommen, dass die 50 Zimmer der Bleibe "Schatzkisten" heißen - aber die Bezeichnung passt: "Alles Paletti" ist das erste Upcycling-Hotel Deutschlands. Fast alles, was hier das Wohlbefinden der Gäste sicherstellt, hatte ursprünglich eine andere Bestimmung. Da liegt es nahe, die Zimmer nicht nur als Zimmer zu vermarkten. Sie sollen im Dienste jener Erkenntnis stehen, die im Tourismus-Bundesland Mecklenburg-Vorpommern zusehends um sich greift: Ein Hotel braucht eine besondere Idee, wenn es sich abheben soll.

Das Hotel wird getragen von dem Witz, der seine Mutterfirma reich gemacht hat. Das Unternehmen Karls ist ein Beispiel dafür, dass Landwirtschaft auch ohne Weltmarkt-Vision expandieren kann. Seine Geschichte begann 1921, als Karl Dahl, der Großvater des heutigen Firmeninhabers Robert Dahl, anfing, in Rövershagen Obst und Gemüse anzubauen. Nach dem Zweiten Weltkrieg flüchtete Opa Karl gen Westen nach Warnsdorf bei Lübeck, baute dort einen neuen Betrieb auf und wurde Erdbeerlieferant der Schwartauer Konfitüren-Werke. Das ging so lange gut, bis die Werke sich nach der Wende der billigeren Konkurrenz aus dem Osten zuwandten.

Karls Sohn Karl-Heinz fing an, einen privaten Erdbeerhandel an speziell designten Ständen aufzuziehen. Robert Dahl ließ sich davon inspirieren und zog 1993 nach Rövershagen zurück. Dort lebte er gut vom Durchreiseverkehr Richtung Ostsee, verkaufte Erdbeeren, Kaffee, Kuchen, bald auch Wurst und andere Produkte. Heute gehören zum Standort in Rövershagen neben den Erdbeerfeldern besagtes Erlebnisdorf mit Bio-Kaufhaus, Restaurant, Fahrgeschäften, Eisskulptur-Schau. Vier weitere Erlebnisdörfer unterhält Karls mittlerweile. Ferienhäuser kamen dazu. Die Nachfrage stimmte, also folgte das Hotel.

Der Bau sollte sich einfügen in die liebevoll arrangierte Erlebnisdorf-Welt mit Hinguckern wie der größten Kaffeekannen-Sammlung der Welt oder dem fliegenden Kuhstall. Ein halbes Jahr tüftelte ein Kreativteam um die Innenarchitektin Jana Paskowski an dem Etablissement. In einer Ecke der Erntehallen entstand das Musterzimmer, dessen erste Ansichten Bauherr Dahl über soziale Medien zur Diskussion stellte. Das Ergebnis der Planungen ist ein zweistöckiges Haus von verspielter Bodenständigkeit, das den Standard herkömmlicher Urlaubsunterkünfte mit dem Esprit eines verrückten Bauernhofs verbindet.

Das Upcycling-Prinzip lauert überall in den schäbig-schicken Zimmern mit Doppelbett und zwei Hochbetten. Die Matratzen liegen auf Europaletten. Die Türknäufe bestehen aus den Isolatoren alter Strommasten. Das Toilettenpapier steckt an einem halbierten Rennradlenker mit Griffband und Klingel. Die Aufhänger für die Zimmernummern waren ursprünglich Wäschetrommeln, die Strandkörbe vor den Zimmern Mülltonnen, die Pflanzenvasen im Foyer Gummistiefel. Ein Kaffeeautomat ist in einer Telefonzelle aus dem Vor-Handy-Zeitalter untergebracht.

Das ist originell, und Mathias Freiheit, Leiter Hotels und Resorts bei Karls, kann dazu Geschichten erzählen. Zum Beispiel dass es gar nicht so einfach war, genügend Schlitten für die Handtuchregale zusammenzubringen. "Komischerweise gibt es eine emotionale Bindung zum Schlitten." Aber wahr ist auch, dass der Einfallsreichtum Grenzen hat. "Trotz Upcycling war uns wichtig, den Komfort der heutigen Zeit zu bieten", sagt Freiheit. Fernseher, Bad-Armaturen, Dusche, Matratzen sind das, was sie sind. Der Waschtisch aus Gerüstbohlen ist so behandelt, dass sich keiner einen Schiefer einzieht und die Flächen gut zu reinigen sind. Kabelloses Internet ist vorhanden. Und dass die Erdbeere der Star ist bei Karls, zeigen die eigens entworfene Bettwäsche, die Tapete, die Vorhänge.

Rostock ist nah, die Ostsee. Der Blick vom Laubengang auf der Rückseite des Upcycling-Hotels geht hinein ins flache Land. Am Horizont sieht man die Containerbrücken von Warnemünde. Auf der anderen Seite schaut man auf das Erlebnisdorf und die Schienen der Feldbahn. Morgens ab acht weckt sie mit knatterndem Motor die Gäste, die sie später zum Frühstück bringt. Das Leben ist im Gleichgewicht in den Schatzkisten von Rövershagen.

Anreise mit dem Auto über die A20. Zimmer ab 67 Euro für zwei Personen ohne Frühstück, eine Tageskarte für das Karls Erlebnis-Dorf ist inbegriffen, www.karls.de

Hinweis

Die Recherchereise für diesen Beitrag wurde zum Teil unterstützt von Veranstaltern, Hotels, Fluglinien und/oder Tourismus-Agenturen.

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