Unterwegs in Riga:"Die Stadt hat ihre Seele verloren"

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Zwischen Jugendstil und Aufbruch: Riga will als europäische Metropole anerkannt werden und verändert sich rasant. Viel mehr als die Einwohner stört das die Ausländer.

Matthias Kolb

In der Computersimulation ist sie schon fertig, Rigas neue Skyline. Gegenüber der historischen Altstadt, auf der anderen Flussseite, reckt sich die dreieckige Nationalbibliothek dem Himmel entgegen, während auf einer Halbinsel die neue Konzerthalle schwarz glitzert. Auf dem Gelände des alten Exporthafens entwirft der holländische Stararchitekt Rem Koolhaas ein ganzes Stadtviertel inklusive eines Museums für zeitgenössische Kunst.

Tallin, Riga, Vilnius
:Baltische Hauptstädte

Seit der Unabhängigkeit der baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen haben vor allem deren Hauptstädte einen Touristenboom erlebt.

"In zehn Jahren erkennt man Riga nicht wieder", sagt Andis Silis und klappt sein Notebook zu. Der Architekt wird die neue Konzerthalle bauen, schon bald rollen die Bagger. Die Idee für den Siegerentwurf mit den verschachtelten Gebäudeteilen kam dem 42-Jährigen, als er auf dem Turm der Peterskirche stand und auf die Dächer hinab schaute: "Riga ist chaotisch. Und das nicht nur von oben gesehen."

Riga ist die größte Stadt des Baltikums, die einzige Metropole. Hier sind die Straßen länger, die Röcke kürzer und die Gegensätze größer: Neben den Blumenständen sitzen mehr arme Leute als in Tallinn oder Vilnius, und Reichtum wird offen gezeigt. Es parken ebenso viele Porsche Cayennes und Bentleys auf den Straßen wie in München, und Nummernschilder wie "ANGEL 69" oder "ME 2" sind fast Pflicht. Heute wohnt die Hälfte der 2,4 Millionen Letten im Ballungsraum Riga, dem politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Zentrum des Landes.

Renārs Kaupers sitzt im Café der Galerija Istaba und trinkt Latte Macchiato. "Es ist wie mit Kindern: Wenn man sie jeden Tag um sich hat, dann bemerkt man keine Änderungen. Aber sieht man alte Fotos, ist es unfassbar, wie sie sich verändern." Insofern gleicht Riga einem Teenager, der alles zugleich entdecken möchte und dabei manchmal zu weit geht.

Kaupers ist der Sänger von Brainstorm, den Helden der lettischen Musikszene, die mit REM und den Rolling Stones durch Europa tourten und auch in Russland sehr beliebt sind. Beim Abschied verrät der 32-Jährige: Die Köpfe an Rigas Jugendstil-Fassaden werden bald in einem Videoclip lebendig und singen mit Brainstorm.

Prachtvoller Jugendstil

Der Jugendstil prägt bis heute das Bild der Stadt. 1856 ließ der Zar die Festung abtragen und breite Boulevards anlegen. Auch damals brummte die Wirtschaft, 1914 hatte Riga eine halbe Million Einwohner, und die neuen mehrgeschossigen Häuser wurden fast ausschließlich im Art nouveau gebaut. Besonders prächtig sind die restaurierten Fassaden in den Straßen Albertaiela und Elisabetesiela, auf denen sich Pflanzen über Stockwerke ranken und es nur so von Hunden, Katzen und Löwen wimmelt.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie Riga mit britischen Sauftouristen umgeht.

Die beste Zeit für einen Besuch ist der Frühsommer, zwischen Mai und Juli sind die Tage im Baltikum am längsten und das Wetter angenehm mild.

Leider ganzjährig besteht in der Balten-Metropole inzwischen ein Problem mit allzu feierfreudigen Besuchern aus Großbritannien. Die Altstadt von Riga ist seit einigen Jahren fest in britischer Hand: Die Billigflieger bringen die "stags" und "hens" für ihre Junggesellenabschiede mit Bier und Gogo-Girls in die Hauptstadt.

Sehr anziehend wirkt auch das Freiheitsdenkmal von 1935 auf die Briten - es zeigt eine junge Frau, die drei Sterne dem Himmel entgegenreckt. Zwischen 9 und 18 Uhr stehen davor zwei Elitesoldaten, die sich nicht rühren dürfen. "Der größte Fehler ist es, auf die Zeiger der nahen Laima-Uhr zu starren. Dann geht die Zeit nie vorbei", sagt Janis. Der 23-Jährige hat sich ans Strammstehen gewöhnt, auch wenn ab und an Touristen versuchen, ihn und seine Kameraden zum Lachen bringen.

Nachts verhaften Polizisten immer wieder britische Trunkenbolde, die sich - als Mutprobe oder wegen einer Blasenschwäche - am Freiheitsdenkmal erleichtern und mit Geldstrafen rechnen müssen.

Einige Kneipen und Clubs rund um die Altstadt haben bereits Schilder mit "NO STAG PARTIES" angebracht, damit die Gäste ungestört ihr Feierabendbier trinken können. Allerdings geht die Zahl der Partygänger zurück - denn die Preise in Lettland steigen und steigen. Ein Bier in der Nähe der Altstadt kostet mittlerweile fast vier Euro, weshalb die jungen Briten sich bereits in Richtung Bukarest oder Kiew aufmachen.

Der junge Amerikaner Karlis Celms hat eine eigene Methode entwickelt, um den britischen Junggesellen etwas über das Land seiner Vorfahren beizubringen. Celms organisiert Touren, bei denen die Teilnehmer auf einem Schießstand mit Pistolen und Kalaschnikows ballern dürfen.

Doch zuvor berichtet Celms von der Stadtgründung durch Bischof Albert im Jahr 1201 und erklärt vor dem Schwarzhäupterhaus das Handelssystem der Hanse, das Riga reich machte. Er zeigt den prachtvollen Dom mit der viertgrößten Orgel der Welt und vor dem Okkupationsmuseum schildert er, wie seine Großeltern 1944 vor der Roten Armee flüchteten.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wieso es in Riga von Vorteil ist, Russisch zu sprechen.

Jede Tour führt durch die fünf Hallen des Zentralmarkts: Früher rollten die Züge in den zweiten Stock, um sofort entladen zu werden. Damals wie heute ist es eine eigene Welt auf 15.000 Quadratmetern, in der die Gerüche ständig wechseln, aber der Lärm konstant bleibt.

Verkäufer werben für Lebensmittel, den Kräuterschnaps Riga Balzams, Handyzubehör oder Plastiktüten. Hier sind Marken wie Chanel und Armani ebenso beliebt wie Kitschmotive mit Sonnenaufgängen und Regenbogen. Gefeilscht wird sieben Tage pro Woche in einer Sprache: auf Russisch.

Kampf um Minderheiten-Rechte

An den Kiosken stapeln sich russische Zeitungen und auf den Ausflugsdampfern, die im Sommer über die Daugava schippern, hört man nur russischen Disco-Pop. Kein Wunder: Zwei Drittel der Einwohner Rigas sind russischer Abstammung - also auch die Mehrheit potenzieller Kunden.

"Wer einen guten Job bekommen will, der muss beide Sprachen beherrschen", sagt Nils Ušakovs, Fraktionschef des "Zentrums der Eintracht". Die Partei kämpft im Parlament für die Rechte der russischen Minderheit - so soll Russisch als Amtssprache anerkannt und der Staatsbürgertest vereinfacht werden. Der 32-Jährige sieht die Nähe als Chance: Der große Nachbar investiert kräftig, und im Sommer vergnügt sich die Moskauer High Society im Nobelkurort Jurmala - auch Oligarch Roman Abramowitsch, Besitzer des FC Chelsea, legt mit seiner Jacht hier an.

Scheinbar machen sich eher Ausländer Sorgen über die rasante Entwicklung. Der Journalist Tim Ochser kam 2001 aus England nach Riga und schüttelt über die Veränderungen den Kopf. Das Steuersystem bevorzugt die Reichen, die Immobilienpreise haben längst westeuropäisches Niveau, die Inflation ist enorm: Im vergangenen Jahr stiegen die Lebensmittelpreise um 21,8 Prozent, was vor allem die Rentner vor immer größere Probleme stellt. Sein Fazit: "Die Stadt hat bei dem Versuch, so westlich wie möglich zu werden, ihre Seele verloren."

Dem widerspricht Andrejs Žagars, der Generaldirektor der Nationaloper. Einst arbeitete der junge Richard Wagner als Musikdirektor in Riga, bevor er 1839 verschuldet die Stadt verließ. Žagars setzt auf moderne Inszenierungen, und der Erfolg gibt ihm recht: Das Ensemble tourt um die Welt, und das Opernfestival im Juni zieht immer mehr Fans an. Solisten wie die Mezzosopranistin Elina Garana treten an der Wiener Staatsoper auf - und singen immer noch in Lettland. Für sie gilt laut Žagars das Gleiche wie für alle Rigenser: "Sie sind stolz auf ihre Stadt und wollen, dass sie wieder eine Metropole von europäischem Rang wird."

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