Unesco-Biosphärengebiet:Die Freiheit des Schäfers

Unesco-Biosphärengebiet: Mehr als tausend Merinolandschafe führt Gerhard Stotz jeden Tag über die Wiesen des ehemaligen Truppenübungsplatzes Münsingen.

Mehr als tausend Merinolandschafe führt Gerhard Stotz jeden Tag über die Wiesen des ehemaligen Truppenübungsplatzes Münsingen.

(Foto: Markus Kirchgessner/laif)

Schafe, Hasen, Zittergras: Auf der Schwäbischen Alb ist die Hektik des Alltags ganz weit weg - trotz explosiver Altlasten.

Von Elisabeth Pörnbacher

Freiheit riecht nach Thymian und hört sich an wie Grillenzirpen. Freiheit sieht aus wie Wiesen mit kniehohem Gras, über das mehr als tausend Schafe laufen. Ein Hund ist ihnen auf den Fersen. "Franz!" Ein stattlicher Mann im schwarzen Hemd kneift die Augen zusammen, pfeift und ruft seinen Hund. "Franz, komm her jetzt!" Der Hund hält kurz inne, blickt zum Mann, zu den Merinolandschafen, wieder zum Mann. Dann läuft er auf ihn zu. "Franz hat einen Kopf aus Stahl", sagt Gerhard Stotz.

Stotz, 62, ist in der vierten Generation Schäfer. Er sagt: "Ich bin vorbelastet." Seine Eltern wollten, dass er einen anderen Beruf erlernt. Stotz aber wollte Schäfer sein wie sie und sein Bruder. Nach 48 Jahren in dem Beruf sagt er: "Das Leben ist mehr von Sorgen und Nöten geprägt als von Erfolg. Aber ich kann arbeiten, wo ich zu Hause bin."

Stotz blickt über die sanften Hügel, die Bremsen, die sein Gesicht umschwirren, bemerkt er nicht. "Diese Landschaft fasziniert mich jeden Tag aufs Neue - obwohl es kaum einen Quadratmeter gibt, über den ich noch nicht gelaufen bin." Sein Zuhause ist eine hügelige Landschaft aus mageren Weiden, Wacholderheiden, Buchenwäldern und Streuobstwiesen, die sich auf mehr als 85 000 Hektar ausbreitet, gut 50 Kilometer südöstlich von Stuttgart.

Weite Teile der Schwäbischen Alb sind seit 2009 Unesco-Biosphärenreservat. Wirtschaft und Tourismus sollen in diesen Modellregionen mit der Natur in Einklang gebracht werden, im Sinne der Nachhaltigkeit. So sollen auf der Schwäbischen Alb die Landwirte vom Fleisch und der Wolle der Schafe leben, die auf Kalkmagerwiesen weiden. Weil die Schafe das Gras kurzhalten, wachsen Kräuter und es erhält sich der Artenreichtum im Gebiet. Der wiederum soll Touristen anlocken, die Wanderungen und Fahrradtouren machen, vorbei an der Burg Hohenzollern, dem Schloss Sigmaringen, an den Uracher Wasserfällen, an Höhlen und Felsformationen im Eselsburger Tal.

Im Boden liegen noch Blindgänger. Dem Schäfer aber bereitet der Wolf mehr Sorge

Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es hier einen Truppenübungsplatz. Von dem Dorf Gruorn, das ihm 1937 weichen musste, ist nur eine Kirche mit einem überwucherten Friedhof geblieben. Daneben steht ein Gasthaus. Der Boden in der Gegend ist heute noch voller Unebenheiten, kleine Wellen, die Panzer hinterlassen haben. Die Landschaft hat trotzdem profitiert: Weil nicht gedüngt wurde, haben sich die Kräuterwiesen erhalten, es gibt keine Monokulturen, keinen millimetergenau gestutzten Rasen. Später fuhren französische Soldaten mit ihren Panzern über das Gelände, in den Sechzigerjahren kamen Bundeswehrsoldaten hinzu. Ende 2005 wurde der Truppenübungsplatz Münsingen geschlossen.

Es ist ein oberflächlicher Frieden: Im Boden liegen noch etwa 560 000 Blindgänger. Besucher sind deshalb gehalten, die ausgewiesenen Wege nicht zu verlassen. Gerhard Stotz erzählt von zwei Freunden, die sich vor einigen Jahren mit Hammer und Meißel an einem Fundstück zu schaffen machten. Einer verlor sein Bein, der andere starb. Die Schäfer, die ihre Schafe hier weiden lassen, haben Risikopachtverträge abgeschlossen.

Stotz macht sich keine Sorgen wegen der Munition im Boden. Wenn Bär und Wolf auf die Schwäbische Alb kämen - das würde ihn mehr beunruhigen. Dann, sagt er, müsse man was unternehmen. Stotz ist leidenschaftlicher Jäger. Und die Schafe sind sein Lebensunterhalt. Er verkauft Lammfleisch und Wolle. "Wir kommen über die Runden", sagt Stotz. Doch ohne die Ausgleichszahlungen der EU gäbe es hier kaum noch Landwirte, meint er. Vor 50 Jahren hat sein Vater einen VW-Bus gekauft, 130 Lämmer sei der damals wert gewesen. Heute müsste Stotz 420 Lämmer dafür verkaufen.

Im Schäferwagen schlafen nur die Touristen

Mittlerweile steht die Sonne hoch am Himmel, die Schafe liegen eng nebeneinander im Schatten der Buchen. Gerhard Stotz setzt sich ins Auto und hört die Nachrichten. Er sagt, er komme nicht oft dazu, die Zeitung zu lesen. Ein anderer Schäfer hat ihn mal gefragt: "Was, wenn wir längst im Krieg sind?" Unter seinem Schnauzbart zeichnet sich ein Lachen ab. Dann reibt er sich die tief liegenden blauen Augen und macht das Radio aus. Es liefen Verkehrsmeldungen: "Unsere Straßen sind frei."

Lonie Geigle führt seit fast 30 Jahren Interessierte über den ehemaligen Truppenübungsplatz, als "Trüp-Guide". "Hier ist jede Minute ein Abenteuer", sagt sie. Schon als Kind habe sie sich immer im Wald rumgetrieben. "Es ist ein Glück, hier arbeiten zu dürfen." Die Welt teilt Geigle in ein Drinnen und ein Draußen. Drinnen wächst noch Zittergras. Man sieht Hasen und Rehe, Stare, Schwalben und Bachstelzen, unter den zerschossenen Bäumen sind Fuchs- und Dachsbauten. Draußen, findet Geigle, gebe es vor allem eines: Hektik. Auf der Schwäbischen Alb gibt es keine Verkehrsstaus. Es gibt 46 verschiedene Radtouren. Und wer wandern will, kann das tun auf dem Löwenpfadweg, den Traufgängen, dem Albschäferweg. Oder im Biosphärenbus vorbeifahren am Brucktal, dem Römersteinturm und dem Aussichtsturm Sternenberg. Im Jahr 2014 und in den Jahren zuvor führten die Guides rund 8500 Besucher über den Truppenübungsplatz, in den Jahren danach waren es noch rund 6000. In diesem Jahr scheint die Zahl der Besucher wieder zu steigen.

Landwirte und Produzenten aus der Region haben sich vor Kurzem zusammengetan und eine neue, regionale Marke ins Leben gerufen. Produkte, die "albgemacht" sind, müssen zum Erhalt der biologischen Vielfalt auf der Schwäbischen Alb beitragen. Nur wie? "Es gibt viele Möglichkeiten: Die Landwirte können ihr Land weniger düngen und nicht zu häufig mähen, Weingärtner können Trockenmauern und Nistkästen bauen, um Insekten und Vögeln einen Lebensraum zu geben", erklären Rainer Striebel und Adelheid Schnitzler von der Geschäftsstelle Biosphärengebiet Schwäbische Alb. Jeder, der die Marke für seine Produkte nutzt, muss einen Beitrag leisten. Kontrollstellen prüfen das. Albgemacht ist der mittlerweile vierte Versuch, eine Regionalmarke zu etablieren. Es prangt auf Joghurt, Maultaschen oder Lammfleisch.

Auf einer Weidekuppe oberhalb von Münsingen wächst das Gras bis zu den Knien, Vögel zwitschern, Grillen zirpen in der Dämmerung. Zwischen Fichten, Hutebuchen und Wacholderheiden stehen Zelte, Jurten, Zirkus- und Schäferwagen. Auf dem Hofgut Hopfenburg können Gäste das ganze Jahr über in geheizten Unterkünften übernachten - abseits vom Straßenlärm, abseits von überfüllten Hotelanlagen.

Am Waldrand steht ein roter Schäferwagen mit zwei kleinen Fenstern und einer Tür, die sich nur mit Druck öffnen lässt. Dahinter liegt ein Ort der Nostalgie: holzgetäfelte Wände, ein Doppelbett, ein Schrank mit Geschirr und Besteck, Wasserkocher und Herdplatte. Schäferromantik braucht nicht viele Gegenstände, nicht viele Quadratmeter. Doch selbst Minimalisten brauchen fließendes Wasser. Das gibt es hundert Meter entfernt in einem weniger romantischen Gebäude, in dem auch Duschen, Toiletten und Waschmaschinen untergebracht sind.

Auf dem Weg zurück zum Schäferwagen begegnet man Menschen, die draußen essen, die letzten Sonnenstrahlen genießen, mit Familie oder Freunden zusammensitzen. Im Schäferwagen ist es dagegen fast unheimlich ruhig.

Schäfer Gerhard Stotz hat früher oft im Schäferwagen übernachtet, um die Herde auch nachts nicht alleine zu lassen. Er sagt, das hatte mit Romantik wenig zu tun. "Jeden einzelnen Regentropfen hörte man auf das Dach prasseln." Heute schläft er zu Hause. Damit keines seiner Schafe über Nacht verloren geht, baut er auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz Münsingen einen Elektrozaun auf. Ein letztes Mal an diesem Tag treibt der Schäferhund Franz die Schafe über die hügeligen Wiesen in die Umzäunung. Nach zehn Stunden in Freiheit wird das Blöken hinter dem Zaun leiser. Die Schafe legen sich hin, kauen wieder. Hinter dem Zaun, da riecht es nach Kamille.

Reiseinformationen

Anreise: Regionalbahnen fahren von Stuttgart und Ulm zu den Bahnhöfen Bad Urach und Blaubeuren. Von dort erreicht man die Haltestelle "Auingen Biosphärenzentrum" mit dem Bus.

Unterkunft: Wer schlafen will wie einst ein Schäfer, der kann sich auf dem Hofgut Hopfenburg einquartieren. Eine Nacht für zwei Erwachsene im einfachen, aber komfortablen Schäferwagen mit Blick über Münsingen kostet ab 39 Euro, www.hofgut-hopfenburg.de

Weitere Auskünfte: www.biosphaerengebiet-alb.de, www.albgemacht.de, www.muensingen.com

Hinweis

Die Recherchereise für diesen Beitrag wurde zum Teil unterstützt von Veranstaltern, Hotels, Fluglinien und/oder Tourismus-Agenturen.

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