Großstädte, die direkt am Meer liegen, können sich glücklich schätzen. Sie lassen ihre Bürger die Unendlichkeit ahnen, und wenn es gut geht, dann weitet dieses Gefühl auch das Herz. Thessaloniki war einst durch Mauern vom Meer getrennt. Die Befestigung sollte vor Piraten und Eroberern schützen. Gegen die Osmanen half sie nicht. Die bemächtigten sich 1430 nach zweimonatiger Belagerung der Stadt am Thermaischen Golf. Mehr als 400 Jahre später, im Jahr 1869, ließ der von europäischen Stadtbauvorstellungen begeisterte osmanische Statthalter Sabri Paşa die Mauern entlang der Küste schleifen. Er wollte frische Seeluft in die Stadt bringen, und ein Wall am Meer hatte in Zeiten der Industrialisierung und des internationalen Seehandels keinen Sinn mehr. Damit begann Thessalonikis stürmische Beziehung mit dem Meer.
Bis in die 60er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts erreichten die Wellen fast die Fundamente der weißen Häuserfronten. Wer von der Seeseite kam, der konnte denken, es gebe keine feste Grenze zwischen Land und Wasser. Ein britischer Beobachter schrieb: "Die Stadt reicht so nah an das Meer heran, dass sie aussieht wie ein Schwan, der sanft über die Wellen gleitet." Dies endete mit dem Bau einer Küstenschnellstraße. Die verlangte einen festen Untergrund, Aufschüttungen, einen Wellenbrecher. So entstand eine lange gerade Küstenlinie, gut geeignet für eine Promenade. Diese wurde im Lauf der Jahre aber wenig gepflegt, verkam zum Parkplatz. Das Ufer, vermüllt und mit wilden Zäunen verstellt, war keine Schauseite der Stadt. Nun ausgerechnet in der tiefsten Krise hat Thessaloniki das Wunder einer Regeneration erlebt. Die Stadt hat sich den freien Zugang zum Meer zurückerobert.
"Die Leute benehmen sich wie Touristen"
Dreieinhalb Kilometer Küste, unverbaut, zum Gehen, Fahrradfahren, Joggen einladend, eine Genießerstrecke, die Bürger und Bauherrn geradezu in Verzückung versetzt: Das ist die neue Paralia, die neue Uferpromenade von Thessaloniki. "Die Leute benehmen sich wie Touristen, die eine Stadt entdecken", sagt der Architekt Prodromos Nikiforidis, der mit seinem Partner Bernard Cuomo den Paralia-Plan entwarf und umsetzte. "Wir bewohnen üblicherweise Städte, die wir nicht lieben, und nun gibt es hier etwas, das wir lieben können, das verändert unser Leben. In einer Krise ist das besonders wichtig", meint Nikiforidis, 57, der selbst staunt über den Erfolg des Küstenumbaus.
Die Promenade am Meer ist nun der größte öffentliche Raum der Stadt. Zur Eröffnung kamen Zehntausende. Ein Fotowettbewerb erbrachte über 800 Einsendungen, 250 wurden in einem Bildband veröffentlicht. Sie feiern die wiedergewonnene Beziehung zwischen Stadt und Meer aus immer neuen Perspektiven, auf geradezu poetische Weise. Ein Verein der "Freunde" der Paralia ist auch entstanden und hegt die frisch gepflanzten Bäume, schrubbt grobe Graffiti weg. Alles ziemlich ungewöhnlich für Griechenland.
Gekostet hat das Wunder 35 Millionen Euro, die EU hat mitfinanziert. Die erste Bauphase endete schon 2008, also kurz vor dem wirtschaftlichen Absturz des Landes, die zweite fiel dann in die Jahre der Finsternis. Da glaubten viele, die neue Uferfront würde nie fertig, die Bauzäune erzeugten eher Aggression als Vorfreude.
Eine Umfrage ergab, 75 Prozent der Griechen werden in diesem Jahr in den Ferien nicht verreisen, weil ihnen das Geld dazu fehlt. Die Stadt als Erholungsraum aber war bislang kein griechisches Konzept. Die Krise könnte auch das verändern. Thessaloniki, mit etwa einer Million Einwohnern der zweitgrößte Ballungsraum des Landes, hat jedenfalls damit nun begonnen.
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Entstanden ist nicht nur ein langer Weg am Wasser. In zweiter Reihe gibt es, um die Stadt auf Abstand zu halten, verschieden gestaltete Gärten. Auch die Villen, die hier einst standen, mit den Grundmauern fast im Meer, hatten Gärten. Sie sind schon lange großen Wohnblocks gewichen. Nun tragen die neuen Gärten Namen wie Garten der Nachmittagssonne, der Töne, des Sandes, der Rosen. Im Garten der Jahreszeiten blüht im Sommer der rote Klatschmohn, und der Wind streicht durchs hohe Gras. Im Garten der Erinnerung wachsen duftender Thymian und aromatische Minze. Der Architekt erzählt, wie er bei Ausflügen in die Umgebung nach wilden Gräsern suchte, die den Menschen in der Stadt die "vergessene" Natur zurückbringen könnten, ihre Gerüche und Farben.
Entstanden ist die Illusion einer natürlichen Landschaft. Ein neues, über drei Kilometer langes, künstliches unterirdisches Wasserreservoir war dafür nötig. Es speist auch Fontänen, Teiche und Wasserbecken. "Wir haben von einer grünen Welt geträumt", sagt Nikiforidis. Nicht alles aber sollte üppig sein. "Wir wollten auch, dass die Menschen die Leere genießen können." Deshalb nutzten die Architekten nur wenige Materialien: Holz, weißen Marmor, grobkörnigen grauen Bodenbelag. Direkt am Ufer gibt es wenig, was das Auge ablenken könnte vom Meer. Und das, was es gibt, war meist schon vorher da, aber es wird neu wahrgenommen. Zum Beispiel der fast vier Meter hohe Halbmond, der nachts in die Ferne leuchtet. Nun sagen manche Leute, die Skulptur sei "türkisch" und müsse weg. Nikiforidis amüsiert das. Das Werk des griechischen Künstlers Pavlos Vasiliadis wird bleiben. Auch bei Liebespaaren ist der halbe Mond beliebt.
In Thessaloniki ist die Luft im Sommer feucht und schwer, der Himmel über dem Golf ist häufig wolkenverhangen. Die massige Silhouette des Olymp, des Bergs der alten Götter, verschwindet nicht selten ganz im Dunst über der Bucht. Auch die Architektur spielt mit Licht und Schatten, in halb geschlossenen Rückzugsräumen. Auch sie halten ein Stück Abstand zum Wasser, damit nichts den Blick aufs Meer blockiert. Cafés sollen hier noch entstehen, eines gibt es schon. In dem sitzt man zwischen Meeresrauschen und gurgelnden Wasserfällen. Die lärmige Stadt scheint Kilometer weit weg. Das Lauteste sind die Möwenschreie.