Süddeutsche Zeitung

Tunesien:Krake aus dem Topf

Das Archipel Kerkennah ist berühmt für seinen Tintenfisch. Gefangen wird er mit einer uralten Technik.

Von Monika Maier-Albang

Schon auf der Fähre wird klar, dass das hier keine Touristeninsel ist, zumindest nicht mehr. Scheue Blicke, freundliches Lächeln. Außer uns sind nur Menschen an Bord, die aus Tunesien stammen. Die Frau im bunten Gewand der Dorfleute bietet dem Gast frische Mandeln an, die Dame in weißer Jeans ein Gespräch auf Französisch. Sie stammt aus Sfax, der Stadt, in der die Fähre vor einer Stunde abgelegt hat. Die Leute von dort gelten als fleißig, die Stadt als relativ wohlhabend; trotz der zurückliegenden schwierigen Jahre gibt es hier noch gehobenen Mittelstand. Am Freitagnachmittag setzt der gern über zu seinen Ferienwohnungen auf der Inselgruppe Kerkennah, zusammen mit Autos und Schafen und jugendlichen Trommlern, die auf ein paar Stunden ohne Sozialkontrolle am Strand hoffen. Am Samstagmittag werden sich die Ferienwohnungsbesitzer bei Najet im Fischrestaurant treffen, auf Plastikstühlen im Freien. Zum Pulpo-Gelage.

Der Tintenfisch kommt im Ganzen, garniert mit Blumen aus Gurke und Radieschen, auf einem Berg aus Couscous, in dem auch Kartoffeln, Oliven und Peperoni verkocht sind. Die Fangarme schneidet man mit einer Schere durch, das geht einfacher als mit dem Messer. Es wird kein Wein, kein Bier serviert bei Najet, "Chez Najet" ist ein Straßenrestaurant ohne Lizenz zum Alkoholausschank, ein Familienbetrieb, bei dem es gibt, was es hier auf der Insel halt so gibt: Fisch, Garnelen, Muscheln - und eben jenen Tintenfisch, für den die Insel berühmt ist. Ihm zu Ehren wird im März ein Fest gefeiert, ihm zu Ehren wurde an der größten Kreuzung in Remla, dem Hauptort, ein Denkmal errichtet, das schon etwas verwittert ist: ein Krake, der aus einem Tonkrug klettert. Denn so fangen sie den Kraken hier seit Menschengedenken: in kleinen, dunklen Amphoren.

Zumindest haben sie das früher so gemacht. Schon zu Zeiten der Römer. Die Fischer legen die Amphoren ins Wasser und hoffen, dass ein Krake das vermeintliche Versteck bezieht. Nach ein paar Stunden, am nächsten Morgen ziehen sie die tönernen Gefäße, die am Boden ein Loch haben, damit das Wasser entweichen kann, ins Boot. Sitzt ein Krake darin, kommt er meist nicht freiwillig raus. Sind ja kluge Tiere. Der Fischer streut dann etwas Salz auf den Kraken. Wenn der Tintenfisch dann aus der Amphore flüchtet, wird er mit einem Stock erschlagen. So grausam, so effizient. "Kein Beifang, und was zu klein ist, wird wieder ins Meer geworfen", sagt Najeh Dahmen, der Fischer, der demonstriert, wie's gemacht wird. Er ist einer der wenigen, die diese schonende, nachhaltige Art des Tintenfischfangs noch ausüben. Die meisten im Dorf haben mittlerweile auf Reusen umgestellt.

Die kleinen Tonkrüge sind Allgemeingut, sie liegen im Hafen gestapelt. Wer rausfährt und damit fischen will, nimmt sich, was er braucht. Bis zu 500 Stück werden mit einer langen Schnur verbunden, dann ins Wasser gelassen. Dort liegen sie am Meeresboden, zwischen Seegras. Von Mai bis Oktober ist der Fang nicht erlaubt, und Jungtiere unter einem Kilo Körpergewicht dürfen nicht mitgenommen werden - eigentlich. Najeh Dahmen sagt, er halte sich an die Vorgaben. Aber nicht alle Kollegen tun das. Tunesien hat große Probleme: eine hohe Arbeitslosigkeit, die Touristen kehren nach den Anschlägen erst langsam wieder zurück. Auf der Kerkennah-Inselgruppe gibt es nur drei Hotels. Und drei Taxen; wenn die Fähre anlegt, beginnt ein Wettrennen um die Fahrzeuge. Das Grand Hotel mit schönem hellen Strandstrand und einem Pool mit Blick darauf ist gerade von Kindern bevölkert. Dreimal im Jahr mietet sich eine Privatschule aus Tunis ein. Ausländische Gäste haben sie hier nicht mehr gesehen, seit Thomas Cook und Neckermann ihre Gäste abzogen. "Wir waren ein gutes Hotel", sagt die Managerin, "vor der Revolution."

Najeh Dahmen erzählt, wie sie früher Gäste mit hinausgenommen haben aufs Meer. Zum Kraken-Einsammeln. Oder auch nur so. Er hat Olivenöl dabei, Brot und Bsisa, einen Getreidebrei. Das vertreibt ihm die Wartezeit und das hat er auch den Touristen immer angeboten. Sein Vater ist heute mitgekommen, Mohamed Dahmen ist 86. Vor ein paar Jahren hatte er einen Oberschenkelhalsbruch, seitdem müht er sich nicht mehr oft aufs Boot. Es kann ja auch stürmisch sein auf dem Meer, gefährlich, wenn sie ausfahren. Im Hafen, wo die anderen Fischer ihn begrüßen, hat er Tränen in den Augen. "Das Meer, das war mein Leben."

Zu Hause, eine kurze Motorradfahrt vom Hafen entfernt - Mohammed sitzt als Sozius hinter seinem Sohn - muss er erst mal rasten. Der Vorraum ist kühl, Matten aus Palmblättern, geflochten und gefärbt, liegen am Boden und dienen als Rückenlehne. Der Vorraum ist zugleich die Küche. Es gibt noch einen offenen Innenhof mit Wasseranschluss, ein paar Zimmer, die von dort abgehen. Hier haben Mohammed und Fatouma Dahmen ihre sieben Kinder großgezogen. Es ist ein typisches Fischerhaus auf Kerkennah, diesem Geflecht aus Inseln, Salzwiesen, Kakteen und Palmenhainen, dessen höchste Erhebung nur 13 Meter über dem Meeresspiegel liegt. Der Wind weht gern über die Inseln, die zu trocken sind zur Landwirtschaft. Also leben die Menschen vom Fischfang, wie seit Jahrtausenden. Oder sie ziehen weg.

Fatouma Dahmen legt einen Kraken auf den Boden, nur um kurz zu zeigen, was man nach dem Fang mit ihm macht. Najehs Mutter ist 84, ihr fehlt mittlerweile die Kraft, den Kraken weich zu schlagen. Und weich schlagen muss man den Tintenfisch. Sein Fleisch besteht zu großen Teilen aus Bindegewebe, das die Muskelfasern umhüllt. Erst durch das Schlagen wird der Oktopus kaubar. Ihre Schwiegertochter, Dalila Abderrazek, übernimmt das Holzbrett. Andernorts schlägt man Tintenfische an der Hauswand weich oder auf der Kaimauer. Auf dem Kerkennah-Archipel klopft man sie mit der Kernefa weich, eben jenem flachen Brett. Die Leute hier haben einen eigenen Dialekt, "unser Wort für das Fischernetz versteht man sonst nirgends in Tunesien", sagt Najeh Dahmen. Römer, Phönizier, Hafsiden, Spanier - sie alle siedelten hier, und alle haben ihre Spuren auch in der Sprache hinterlassen. Die Phönizier nannten die Inselgruppe Cercina, nach der Sirene Circe. Der Sage nach hatte sie Odysseus hier festgehalten. Hannibal nutzte Kerkennah als Stützpunkt im Krieg gegen die Römer und fand sich dann hier im Exil wieder. Ebenso wie der erste Präsident der Tunesischen Republik, Habib Bourguiba.

Den Tunesiern ist Kerkennah heute aber vor allem wegen der Tintenfische bekannt. Octopus vulgaris, der Gewöhnliche Krake, der in europäischen und nordafrikanischen Gewässern lebt, fühlt sich hier besonders wohl. Der Kopffüßler wird im Mittelmeer bis zu 1,40 Meter lang, seine Lebensspanne ist jedoch überschaubar. Zwischen zwölf und 15 Monaten alt werden die Tiere; sie laichen das ganze Jahr über, vor allem aber im Frühjahr und im Herbst. Ein Großteil dessen, was auf tunesischen Märkten frisch oder getrocknet als Knabberei verkauft wird, stammt vom Kerkennah-Archipel. Allerdings haben sie hier seit ein paar Jahren Probleme mit einer zugewanderten Krabbenart. Die Blaukrabben fressen, was sie erwischen können - gern auch junge Tintenfische. Weil die Krabbe aus Libyen stammen soll, haben ihr die Fischer den wenig schmeichelhaften Namen Daesch gegeben - die arabische Bezeichnung für die Terrormiliz Islamischer Staat. Diese Saison, sagt Najeh Dahmen, sei trotzdem "ein gutes Jahr" gewesen. Die Tintenfische fanden viel Futter, entwickelten sich prächtig. Ein Kollege fing ein 16 Kilogramm schweres Exemplar.

Mit einem Vier-Kilo-Kraken lässt sich aber auch schon einiges anfangen. Nach dem Klopfen wird der Tintenfisch zunächst noch einmal am Boden gewalkt; Familie Damen legt dazu ein Fischernetz unter. Die verdichteten Fasern sollen sich wieder lösen. Danach kommt der Oktopus in einen Eimer, wo er kräftig mit Salz eingerieben wird. Während Najeh Dahmen das Salz wieder abwäscht, den Schnabel, die Innereien und die Augen entfernt, bereitet seine Frau im Mörser Gewürze zu, zerstampft Knoblauch, Kümmel, Fenchelsamen, Pfeffer. Tomatenmark ist wichtig, der Krake wird im Sud garen. Gereicht wird er mit Paprika, Kartoffeln, Kürbis und, zum Sattessen, Couscous. Zur Vorspeise gibt's Krabbe, frisch aus dem Eimer, geröstet auf einem teekannenkleinen Ofen. Mohammed legt das Tier lebendig auf die Kohlen.

Am Kochen beteiligt sich die ganze Familie, jeder schnippelt und schält. Melek, die 14-jährige Tochter von Dalila und Najeh, wird noch schnell losgeschickt, Petersilie holen. Sie schwingt sich aufs Motorrad, ihre Cousine Eya steigt hinten auf. Die Mädchen sprechen englisch, französisch. Mädchen ans Haus gekettet? Das ist hier nicht üblich. Auch Fatouma und Mohammed sind nicht verheiratet worden. Sie holt ein paar vergilbte Fotos. Die beiden als junge Leute, auf dem Souk haben sie sich kennengelernt, da war er 19, sie 17. Sie haben geheiratet, gemeinsam den Hadsch, die muslimische Pilgerfahrt angetreten. "Er ist der Einzige", sagt sie. "Sie ist meine große Liebe", sagt er. Nur das Meer hätte sie trennen können. Aber es war gnädig.

Reiseinformationen

Anreise: Flug direkt nach Sfax-Thyna oder nach Monastir. Von dort aus mit dem Mietauto ca. zwei Stunden nach Sfax. Von der Hafenstadt aus setzen mehrmals täglich Auto-Fähren in ca. einer Stunde zum Kerkennah-Archipel über. Die Hotels auf den Inseln holen Gäste auf Anfrage auch am Fähranleger ab - und sie organisieren Ausfahrten mit Fischern.

Übernachtung: z. B. im Grand Hôtel Kerkennah, DZ mit Halbpension ca. 30 Euro p. P., Tel.: 00216 / 74 48 98 59, www.grand-hotel-kerkennah.com

Pulpo essen: Im Restaurant Chez Najet Le Régal kocht Najet Werda alles, was ihr von den Fischern aus dem Meer gebracht wird, www.cheznajet.com

Weitere Infos: Tourismusamt Sfax, crt.sfax@ontt.tourism.tn, www.discovertunisia.com/de

Hinweis

Die Recherchereise für diesen Beitrag wurde zum Teil unterstützt von Veranstaltern, Hotels, Fluglinien und/oder Tourismus-Agenturen.

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Quelle:
SZ vom 04.10.2018/edi
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