Türkei:Macht Mist

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Um die Pferdekutschen auf Istanbuls Prinzeninsel Büyükada ist ein Streit entbrannt. Tierschützer wollen sie abschaffen. Die Behörden möchten sie durch Elektroautos ersetzen. Die Touristen aber lieben sie.

Von Mirjam Wlodawer

Fünf Lira, keine zwei Euro, kostet das Übersetzen ins Paradies. In eineinhalb Stunden erreicht die Fähre, die in Istanbul-Kabataş abgelegt hat, die Insel Büyükada. Auf der größten der neun Prinzeninseln sind die Hochhäuser des Festlandes schon fast nicht mehr zu sehen. In Istanbul wird eifrig gebaut, auf den Prinzeninseln jedoch scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Osmanische Holzvillen liegen umschlungen von violetter Blütenpracht, hinter duftenden Pinienwäldern öffnet sich der Blick aufs Meer. Nicht einmal Autos stören die Idylle. 1928 erließ Staatsgründer Atatürk auf den Prinzeninseln ein Autoverbot. Stattdessen rattern Kutschen über die Straßen. Verliebte Pärchen kuscheln sich darin auf türkisfarbenen Plastikpolstern aneinander. Touristen fotografieren sich während der Fahrt. Für smoggeplagte Städter ist ein Tagesausflug auf die Prinzeninseln ein romantisches Vergnügen. Das aber könnte bald ein Ende haben.

Seit mehr als hundert Jahren gibt es die Kutschen auf den Prinzeninseln. Nun ist ein heftiger Streit um sie entbrannt, und wer dabei welche Interessen verfolgt, ist nicht leicht zu durchschauen. Tierschützer wollen die Kutschen am liebsten ganz abschaffen. Die Stadtverwaltung von Istanbul möchte die Zahl der Kutschen zumindest reduzieren. Dabei sind die Gefährte eine Attraktion: An Sommerwochenenden, wenn Istanbuler und Touristen aus aller Welt auf die Insel kommen, muss man oft bis zu einer Stunde warten, bevor die nächste Kutsche frei wird.

Etwa 1000 Kutschenpferde gibt es auf Büyükada. Tierschützer behaupten, mehr als 400 von ihnen würden jedes Jahr an Erschöpfung sterben. In den vergangenen Jahren haben sich deshalb immer wieder Bürger von der Insel und vom Festland zusammengetan und gegen das Kutschenwesen protestiert. Zuletzt starteten Tierschützer im Juni eine Online-Petition. Sie fordern die Istanbuler Stadtverwaltung und die Verwaltung der Prinzeninseln auf, die Kutschen durch Elektrofahrzeuge zu ersetzen. Mehr als 29 000 Personen haben die Petition bereits unterzeichnet. Dabei leben auf Büyükada gerade mal 7000 Menschen. Dass die Anti-Kutschen-Bewegung so breite Unterstützung erhält, dürfte auch an der Berichterstattung in den türkischen Medien liegen. Diese veröffentlichten in den vergangenen Jahren immer wieder Bilder von dramatischen Unfällen und von Pferden, die unter ihrer Last zusammenbrechen.

Tote Pferde, schlimme Unfälle? Alles nur Propaganda, sagen die Halter der Tiere

Hasan Ünal nennt das Propaganda. Der 70-Jährige ist seit mehr als drei Jahrzehnten Präsident des Vereins der Kutschenfahrer. Zu den Vorwürfen der Tierschützer sagt er: "Das sind Lügen! Die meisten Pferde befinden sich in einem guten Zustand." Ünal zeigt aus dem Fenster. Draußen auf dem Kutschen-Platz stehen die rot-gelben Wagen dicht an dicht, die Pferde warten geduldig davor. Drahtige Tiere, die an manchen Tagen mehr als 50 Kilometer zurücklegen. Auch wenn sie nicht dick sind, die meisten scheinen von ihren Besitzern ausreichend gefüttert zu werden. Nur bei wenigen Tieren zeichnen sich feine Rippenbögen unter dem Fell ab. Unweit ihrer Tiere sitzen die Kutscher und warten auf Kundschaft. Sie trinken Tee, spielen Karten. Jetzt im Winter bleibt ihnen dazu viel Zeit.

In den Sommermonaten strömen täglich bis zu 6000 Menschen nach Büyükada. 226 Kutschenfahrer stehen dann auf dem Platz nahe der Anlegestelle bereit, die Touristen für 80 Lira (etwa 30 Euro) um die Insel zu fahren, vorbei an osmanischen Villen, deren filigran geschnitzte Holzgiebel an feine Spitzenklöppelei erinnern. Mitte des 19. Jahrhunderts, mit der Einführung der Dampfschifffahrt, entdeckte die Istanbuler Oberschicht die Insel als Ferienort und errichtete hier ihre Sommervillen. Auch Staatsgründer Atatürk war ein regelmäßiger Gast auf Büyükada. Im Splendid Palast Hotel soll er rauschende Feste gefeiert haben. Auch heute ist es das Privileg reicher Istanbuler, sich den Luxus einer Sommervilla zu leisten, die im Winter leer steht. Neben der osmanischen Architektur und dem griechisch-orthodoxen Aya-Yorgi-Kloster sind es vor allem die weitläufigen Pinienwälder und die abgelegenen Badebuchten, die Touristen auf die Insel locken. Immer mehr von ihnen erkunden die Insel mit dem Leihfahrrad. Immer wieder kommt es zu Unfällen zwischen Fahrradfahrern und Kutschen. Auch deshalb fordern Kritiker, die Zahl der Kutschen zu reduzieren oder diese ganz abzuschaffen.

Der Streit um die Kutschen schwelt seit 2012, als die Istanbuler Stadtverwaltung einen Teil der Kutscher enteignen und die Kutschen durch Elektrofahrzeuge ersetzen wollte. Die Witwe eines Kutschers klagte gegen die drohende Enteignung, sie verlor in erster, gewann aber in zweiter Instanz. Die Stadtverwaltung konnte ihren Beschluss damals also nicht durchsetzen. Hasan Ünal, der Präsident des Vereins der Kutschenfahrer, hegt den Verdacht, dass es bei dem nun neuerlich ausgebrochenen Streit nur vordergründig um Tierschutz geht. "Sie wollen die Kutschen abschaffen und die Inseln motorisieren. Dann können Bauunternehmer wie Ali Ağaoğlu oder die Sabancı Holding hier große Hotels bauen", behauptet er. Belege kann Ünal nicht vorweisen. Doch der Bauboom unter der Erdoğan-Regierung und die Berichte von Enteignungen sorgen bei vielen regierungskritischen Türken für Misstrauen und Verschwörungstheorien. Ünal ist der Ansicht, die Istanbuler Stadtverwaltung lasse sich von den reichen Bauunternehmen instrumentalisieren. Die Elektrofahrzeuge wären demnach nur der Anfang, langfristig würden dann schwere Baufahrzeuge eingeführt, um in den unberührten Pinienwäldern der Insel große Bauprojekte zu realisieren. Den Kutschern, sagt Ünal, gehe es also nicht nur um das eigene Überleben, sondern auch um den Schutz der Inseln.

Bisher gingen die Kutscher davon aus, dass ihnen bei der Auseinandersetzung mit der Istanbuler Stadtverwaltung der Bürgermeister der Prinzeninseln zur Seite steht. Schließlich werden die Inseln traditionell von der türkischen Oppositionspartei CHP regiert, während der Oberbürgermeister von Istanbul, Kadir Topbaş, zur Regierungspartei AKP gehört. Im September jedoch berichtete die Online-Zeitung Gazete Hakimiyet, Präsident Recep Tayyip Erdoğan persönlich habe sich in die Diskussion um die Kutschen eingeschaltet und auch der Bürgermeister der Prinzeninseln, Atilla Aytaç wolle nun, ungeachtet seiner Wahlkampfversprechen gegenüber den Kutschern, das alte Vorhaben der Istanbuler Stadtverwaltung aufgreifen, die Zahl der Kutschen um rund 90 zu reduzieren.

"Einen solchen Plan gibt es bis jetzt nicht", widerspricht Mahmut Yerlikaya, der Assistent des Bürgermeisters. Man wolle vielmehr in den kommenden Wochen mit den Kutschern und der Istanbuler Stadtverwaltung nach einer Lösung suchen. Vor allem die Stallanlagen müssten dringend saniert werden, sagt Yerlikaya. "Dort ist alles voller Müll und Schlamm." Tatsächlich stehen die meisten Pferde im Osten der Insel am Rande eines Pinienwaldes in Ställen, zwischen denen sich der Unrat türmt. Auch rund 300 Männer leben hier. Weil das Leben auf der Insel für sie zu teuer ist, wohnen sie auf den staubigen Dachböden über den Ställen ihrer Pferde.

"Die Leute haben keinen anderen Platz zum Bleiben", sagt Yerlikaya. Die Istanbuler Stadtverwaltung, die für die Anlage zuständig sei, kümmere sich nicht ausreichend um diese Menschen. Yerlikaya betont zwar, dass die Verwaltung der Prinzeninseln auf Seiten der Kutschenfahrer stehe. Dennoch hält er die Kritik der Tierschützer für berechtigt. "Eines der größten Probleme ist der schlechte Gesundheitszustand der Pferde", sagt er. "Außerdem fahren die Kutscher viel zu schnell."

Die Kutscher sind Kurden, Außenseiter auf der Insel der Reichen

Erstaunlich ist allerdings, dass der Tierarzt der Inselverwaltung, Fahri Dal, seinem Vorgesetzten widerspricht. Seit 1992 sieht er nach den Tieren, es gebe auch unangekündigte Kontrollen, sagt Dal. "95 Prozent der Pferde befinden sich in einem guten Zustand." Der wahre Grund für den Unmut in der Bevölkerung, glaubt Fahri Dal, habe mit den Tieren nichts tun. "Seit etwa 20 Jahren kommen vor allem Kurden aus dem Osten der Türkei hierher, um als Kutscher zu arbeiten. Einfache Leute sind das, mit wenig Bildung. Das gefällt vielen Bewohnern der Insel nicht."

Spricht man mit Güler Certel, bestätigt sich diese Einschätzung. "Die Kutscher kümmern sich nicht genug um die Pferde. Sie lassen die Tiere frei im Ort umherlaufen. Oft sind die Pferde krank. Und manchmal stirbt sogar eines auf der Straße", beschwert sich die 54-Jährige, die auf der Insel aufgewachsen ist. Für sie sind die Kutscher Fremde, Männer, die im hinteren Teil der Insel im Schmutz leben und den Schmutz in ihr Viertel tragen. "Das ist doch wirklich kein schöner Anblick", sagt Certel und deutet auf eine vorbeifahrende Kutsche. "Sollen die Kutscher doch dorthin gehen, wo sie hergekommen sind!"

© SZ vom 22.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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