Türkei:Der neue Schliff

Wie eine Ohrfeige: Emrah Serbes' Krimis spielen in einem aufgekratzten Ankara. In dessen Abgründe passt immer eine Leiche.

Von Christiane Schlötzer

Was soll man schon erwarten von einer Stadt, in der selbst das Wetter charakterlos ist? Hin- und hergerissen zwischen Schnee und Regen, der Himmel kaffeebraun. Behzat Ç., Hauptkommissar bei der Mordkommission Ankara, flucht ausgiebig, auch auf das Wetter, trinkt zu viel, raucht Kette und tut auch sonst noch ein paar Dinge, die ein Türke nicht tun sollte, jedenfalls dann nicht, wenn er Staatsbeamter ist.

Deshalb darf der berühmteste TV-Kommissar der Türkei auch nur auftreten, wenn jede Bierflasche in seinen Händen auf dem Bildschirm gepixelt ist und jeder Fluch aus seinem Mund in einem Piepton untergeht. Das hört sich dann oft minutenlang so an: piep, pieppiep, piieep. Was wiederum sehr komisch sein kann.

Die vielen türkischen Fans von Behzat Ç. nehmen das alles klaglos hin. Für ihre Liebe zu dem ungeschliffenen Helden tragen sie es sogar mit Fassung, dass diese Kriminalgeschichten nicht in Istanbul spielen, wo das Leben stets unberechenbar, voller Wucht und überwältigend aufregend ist, sondern in Ankara, das der echte Istanbuler für ein kreuzlangweiliges und völlig verschnarchtes anatolisches Kaff hält.

Doch fährt man erst mal eine Weile mit Behzat Ç. in einem schlecht gefederten Polizeiwagen durch die türkische Hauptstadt, dann wirkt diese bald gar nicht mehr so mausgrau und aufgeräumt. Abgründe tun sich da vielmehr auf in einer Fünf-Millionen-Metropole, so groß, dass immer wieder eine Leiche hineinpasst.

Während der Proteste wurden die Schwäne im Park vor dem Tränengas geschützt

Beispielsweise im idyllischen Schwanenpark, mitten in der Stadt, wo "Verschütt gegangen" spielt, der zweite ins Deutsche übersetzte Roman von Emrah Serbes. "In Ankara hat jeder einen Bekannten, der ein politisches Amt bekleidet, oder ist selbst in der Politik", sagt der türkisches Schriftsteller Serbes. "Deshalb ist die Stadt so gut geeignet für politische Krimis."

Serbes ist der Erfinder des subversiven Polizisten mit dem großen Herzen und dem kurzen Nachnamen, von dem man immer nur den Anfangsbuchstaben erfährt. Dieser Behzat hat den erst 34-jährigen Autor berühmt gemacht. Es gab 96 Folgen von je 90 Minuten im Fernsehen, bei Youtube sind sie immer noch Hits, auch wenn die letzte schon im Mai 2013 ausgestrahlt wurde. "Dann explodierte Gezi", sagt Serbes. Der heiße Protestsommer, dem in der Türkei die politische Kälte folgte. Serbes schilderte während des Aufruhrs live in einem Internet-TV-Kanal, was er auf der Straße vor sich sah: prügelnde Polizisten zum Beispiel. "Es war alles frisch, ich war wütend", erinnert sich der Türke, der fast schüchtern, ja verlegen wirkt, wenn er von sich selbst erzählt. "Ich sah da auf dem Bildschirm wichtiger aus, als ich bin."

Für Recep Tayyip Erdoğan, inzwischen Präsident und damals Premier, war Serbes jedenfalls wichtig genug, um gegen ihn Strafanzeige wegen Beleidigung zu erstatten. "Sie verlangten zwölf Jahre Haft, aber ich wurde freigesprochen. Danach wurde der Richter versetzt. Wir leben in einer kafkaesken Zeit", sagt Serbes. Heute könnte er eine Serie wie Behzat Ç. wahrscheinlich gar nicht mehr drehen, glaubt Serbes.

Inzwischen lebt Serbes in Istanbul, nach Ankara, wo er studiert hat, kommt er nur noch selten. Aber er hat die Stadt im Kopf, seit er dort die Universität für Sprache, Geschichte und Geografie besucht hat. Und seine Krimi-Schauplätze gefunden hat. Einen gleich gegenüber von seiner Hochschule: "Da steht der Justizpalast. Das ist ein riesiges Labyrinth, ein Ort zum Ersticken."

Von Istanbul nach Ankara gibt es seit ein paar Monaten den Yüksek Hizli Tren, einen Hochgeschwindigkeitszug. Der jagt mit bis zu 250 Stundenkilometern durch die zersiedelte Landschaft, während auf den Deckenmonitoren im Fahrgastraum Bilder von Fantasiestädten zu sehen sind, durch die ebenfalls Züge rasen - abwechselnd mit Fotos von Erdoğan. Wenn der echte Zug nach etwa vier Stunden in den Bahnhof von Ankara einrollt, ist die schöne neue türkische Welt nicht mitgekommen. Der alte Ankara Garı im Art-déco-Stil wirkt wie ein Eisenbahnmuseum. Ein neuer Bahnhof wird schon gebaut, ein Stück entfernt vom alten. Das Stadtumbaufieber hat nach Istanbul auch Ankara erfasst. Das große Monopoly bietet reichlich Gelegenheiten für undurchsichtige Geschäfte und viel Stoff für düstere Geschichten.

So ist jüngst schon ein Teil des Atatürk-Waldes, eines beliebten Refugiums am Stadtrand, für Erdoğans Riesenpalast geopfert worden. Eher erfreulich ist dagegen das Verschwinden eines anderen Wahrzeichens, das Serbes in "Verschütt gegangen" noch als "Miniaturausgabe" Ankaras porträtiert. "Man stelle sich einen Ort vor, an dem eine Moschee, ein Parkhaus, eine öffentliche Toilette, Kaldaunen-, Gewürz- und Gemüsehändler, Bars mit Rockmusik und solche mit türkischer Volksmusik, Vergnügungslokale, Einwohnermeldeamt und Buchhalter verschiedener Ministerien miteinander koexistieren." Dieses SSK-Gebäude (SSK steht für die türkische Sozialversicherung) war ein Schreckensbeispiel misslungener Behördenarchitektur.

Türkei
(Foto: SZ Grafik)

Nun ist das SSK weg, das heißt, das Haus ist noch da, aber es ist so aufgehübscht , dass man es lange suchen muss. Drinnen, im Foyer, glänzt jetzt schwarzer Marmor, eine freundliche Türkin greift alle paar Minuten zu einem bimmelnden Telefon. Cözüm Merkezi, Problemlösungszentrum, steht auf einem Schild auf ihrem Tisch. Die Telefon-Dame erzählt, die Anrufer beschwerten sich bei ihr über schmutzige Straßen, wilde Hunde, solche Sachen. "Wir helfen, wo wir können, auch über Facebook und Twitter", sagt die Problembehandlerin mit einem Lächeln, das auch Behzat Ç. schwach gemacht hätte.

Sie arbeitet für die Verwaltung des zentralen Stadtbezirks Çankaya, in dem die linke Oppositionspartei CHP das Sagen hat. Die versucht, sich mit Diensteifer von der regierenden islamisch-konservativen AKP Erdoğans abzusetzen, weshalb auch in dem schon erwähnten Schwanenpark Bäume und Mäuerchen mit Plakaten und Graffiti dekoriert sein dürfen. Besonders beliebt als Wanddekoration ist der Pinguin mit Gasmaske, seit Gezi ein Symbol für den Protest gegen Erdoğan. Fast überall sonst in der Stadt wurden die Pinguine überpinselt, nicht aber in dem Park mit den japanischen Brückchen und beschatteten Ruhebänken. Während der Protest-Wochen wurden die Schwäne aus dem Teich geholt und in Sicherheit gebracht, damit sie durch das Tränengas keinen Schaden nehmen. Sie sind wieder zurück.

Serbes hat sich diesen fast schon unheimlich friedlichen Ort, der wie eine vergessene Insel im Ankaraner Verkehrschaos liegt, als Schauplatz für eine schaurig tiefgründige Geschichte ausgesucht, in der es - wie oft bei diesem Autor - auch um politische Traumata und Abrechnungen mit der türkischen Vergangenheit geht.

Behzat Ç. rutscht auf der Jagd nach dem Bösen gern mal die Hand aus. Dafür wird er dann von seinen Kollegen ermahnt, er solle aufpassen, "wegen der EU und so". Dies kann man als Kommentar zur alltäglichen Gewalt lesen. Zu prügelnden Polizisten und prügelnden Ehemännern. Auch sonst erzählt Serbes nebenbei viel aus dem gewöhnlichen Leben. Etwa, wenn Behzat und seine Männer sich schnell mal eine DVD bei einem der allgegenwärtigen Raubkopienverkäufer bestellen. Der Händler mit der Piratenware gibt den Polizisten das Gewünschte, traut sich aber nicht, dafür Geld zu verlangen. Man kennt sich.

Info

Anreise: Direktflug von München nach Ankara mit Lufthansa, hin und zurück ab etwa 300 Euro; Turkish Airlines und Airberlin fliegen mit Zwischenstopp ab ca. 200 Euro nach Ankara und zurück.

Unterkunft: Check Inn Ankara, DZ ca. 80 Euro, King Güvenlik Hotel, Cankaya, DZ ab 70 Euro.

Weitere Auskünfte: In deutscher Übersetzung sind die zwei Behzat-Ç.-Krimis "Jede Berührung hinterlässt eine Spur" und "Verschütt gegangen" von Emrah Serbes im Berliner Binooki-Verlag erschienen.

Die Beamten müssen zwar oft die kleinen Gangster jagen, würden sich aber viel lieber den großen widmen, denen mit den "Strandhäusern" und "Prunkvillen". Sie klagen gern übers miese Polizistengehalt und versorgen sich mit billigem Hähnchen-Döner unter der Sıhhiye-Brücke, Ankaras ungemütlichster Verkehrsunterführung, einem Ort, der so lauschig ist wie der Mittelstreifen einer Autobahn. Wo es aber alles gibt, was man braucht, vom Kebab bis zur Kosmetik, vom öffentlichen WC bis zum Laptopçu, dem Computer-Service.

Der Ausgang aus dem Labyrinth der Rechtsprechung ist schwierig zu finden

Von der Sıhhiye-Brücke ist es nicht weit zum Justizpalast, dem Adalet Saray, den zu betreten jeder Ankaraner immer wieder gezwungen wird, weil es diverse Dokumente nur dort gibt. "Du musst dort beispielsweise einen Schein holen, um zu beweisen, dass du kein Krimineller bist", sagt Serbes. Die Wände des in den Achtzigerjahren errichteten Riesenriegels sind mit farbigen Mosaiksteinen geschmückt, die mal der letzte Schrei waren und heute gestrig und gammelig wirken. Aber die Böden sind peinlich sauber. Früher lagen überall Kippen herum. Heute herrscht in öffentlichen Gebäuden Rauchverbot. Vor den Gerichtssälen sitzen Gruppen von Wartenden, auch mal einer in Handschellen. Wer sein Geschäft erledigt hat, strebt rasch nach draußen, wobei er den Ausgang aus dem Labyrinth der Rechtsprechung erst einmal finden muss. Vor dem Mammutbau sitzen ältere Männer. Sie sind Schreiber, tippen die Anträge fürs Gericht. Das war einst ein lohnender Beruf, als viele Türken noch Analphabeten waren.

Serbes sagt, in Ankara fänden die Menschen nicht so viel Ablenkung wie in Istanbul, deshalb seien die sozialen Beziehungen enger, "wärmer". Auch aus zu viel Nähe kann Reibung entstehen, Eifersucht und Rachsucht, Mord und Totschlag. Das Verbrechen braucht keinen Bosporus-Blick und auch kein gutes Wetter.

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