Süddeutsche Zeitung

Tschechien:Hier spielt die Musik

Fabriken neben Kunstarealen: Ostrava in Tschechien bewahrt seine Identität als Industriestadt und lockt gleichzeitig junge Kreative an.

Von Viktoria Großmann

Unter Ostrava liegt noch Kohle. Niemand wird sie mehr nach oben befördern. Weithin sichtbar markieren die verrosteten Fördertürme von Dolní Vítkovice, der Witkowitzer Eisenwerke, Ostravas Vergangenheit - und Zukunft. Früher Industrie. Heute nationales Kulturerbe und einer der interessantesten europäischen Festivalorte. 1,5 Millionen Touristen kommen jährlich in die 280 000 Einwohner zählende Stadt im Osten Tschechiens an der Grenze zu Polen. Eingerechnet die vielen Tausend, die im Sommer den Bands beim Festival "Colours of Ostrava" zuhören.

An Ostrava scheiden sich die Geister. Die einen halten sie für einen schmutzigen Moloch, die anderen lieben die Universitätsstadt für ihr Understatement, ihren Industriecharme und die lange Bergbau-Geschichte, die für Besucher sehr anschaulich aufbereitet wurde. Die Unternehmerfamilie Rothschild hat hier im 19. Jahrhundert eine Arbeitersiedlung errichtet. Architekturinteressierte zieht es in den Stadtteil Poruba mit seiner Siedlung im Stil des sozialistischen Realismus. Das Beskiden-Gebirge ist nah und im Norden grenzt das Hultschiner Ländchen mit seinem romantischen Hauptort Hlučín an, die deutsche Sprache wird hier teilweise noch gepflegt.

Doch die an der Grenze zwischen Mähren und Schlesien gelegene Stadt, auf Deutsch Ostrau, hat sich noch längst nicht sauber gewaschen. Der Ruf als schmutzige Industriestadt hängt ihr nach. Zwar zählt es Pittsburgh oder Dortmund und Essen zu seinen Vorbildern. Aber in Ostrava tanzt man nicht auf Industrieruinen. Hier wird noch immer Stahl gekocht, wenn auch weniger als früher. Dass Ostrava einmal eine Stadt ohne Industrie sein wird, kann sich aber niemand vorstellen. Chemie, Autoteile und Chipherstellung ersetzen Arbeitsplätze in den Kokereien und im Bergbau.

Ostrava ist im Wandel und im Aufbruch. Sie passt in keine Schublade. Eine Kulturszene entwickelt sich, die hier viel Raum zur Entfaltung findet und statt auf Konkurrenz auf Zusammenarbeit setzt. Die Kultur soll die Industrie aber nicht ersetzen. Sie will und soll sie ergänzen. Und der Stadt zu neuem Selbstbewusstsein verhelfen.

Hana Plachá findet, dass das großartig gelingt. Sie führt täglich Menschen durch das alte Stahlwerk Vítkovice. 1998 wurde der Betrieb eingestellt. Hier wurde seit 1828 Kohle gefördert, wurden Koks und Eisen hergestellt und verarbeitet. Zwei Stunden dauert die Führung über das 150 Hektar große Gelände, über das Kunstwerke verteilt sind. Man kann aber auch alleine herumstromern. Es gibt zwei technische Museen, ein Kunstmuseum und ein Café in einem alten Industrieturm. Von hier hat man Aussicht über die Stadt. Es sei denn, es gibt Smog. Der gehört in Ostrava dazu.

"Es ist schon viel sauberer als früher, als ich noch zur Schule ging", sagt Plachá. Heute hat sie selber schulpflichtige Kinder. Nach einigen Jahren in Wien ist sie in ihre Heimatstadt zurückgekehrt. Sie möchte am Wandel teilhaben. Überall verweisen Schilder auf die Unterstützung der Europäischen Union - hier im nationalen Kulturdenkmal an einem rostigen Förderband wie auch in der Straßenbahn, die in ihren quietschenden Waggons über ein hochmodernes, kontaktloses Bezahlsystem verfügt. "Ohne die EU wäre das hier alles nicht möglich gewesen", sagt Hana Plachá. Es schwingt echte Dankbarkeit mit. Man wird diesen Satz hier noch oft hören.

Auch von Ondřej Slach. Der Geograf klettert mit seinem Besuch auf das Dach der Universität, an der er lehrt. Auch er zeigt Ostrava am liebsten aus der Höhe, um die Weite der Stadt zu verdeutlichen. "So viel Grün", sagt er. "Aber es ist so schwer zugänglich." Die Brachflächen sind Ostravas größter Kummer. Wegen der Altlasten im Boden ist die Sanierung unendlich teuer. Slach war skeptisch, als er aus dem idyllischen Südmähren in die Industriestadt zog. Heute schätzt er ihr Potenzial. Vor einigen Jahren war er an der Bewerbung um den Titel der europäischen Kulturhauptstadt beteiligt. Den Zuschlag erhielt dann die niedliche, westböhmische Bierstadt Pilsen. "Ich bin eigentlich dankbar, dass wir verloren haben", sagt der Mittdreißiger heute. "Die Kultur kann die Stadt nicht retten, sie kann helfen." Aber nur dann, wenn es ihr gelinge, die Einheimischen zu integrieren.

David Mírek dreht sich eine Zigarette und runzelt die Stirn. Er findet, dass Ostrava ein echter Plan für die Entwicklung der Kultur fehlt. Der Theatermacher, Anfang 30, engagiert sich für den gemeinnützigen Verein Provoz Hlubina, Teil des Kulturbetriebs in Dolní Vítkovice. Das Projekt bietet Künstlern Räume, veranstaltet Poetry Slams, Freilichtkino, Konzerte. Das läuft gut. Doch Mírek fehlt die Wertschätzung der Stadtoberen und auch eine bessere Infrastruktur. "Die Wege von einem Viertel zum anderen sind weit. Viele haben keine Lust, nachts eine halbe Stunde oder länger mit der Tram irgendwohin zu fahren."

"Ostrava ist zu groß für die Zahl seiner Einwohner", bestätigt Geograf Ondřej Slach. Zusammengewachsen ist die Stadt, durch die die Flüsse Ostravice und Oder fließen, aus mehreren Dörfern. Es gibt einen schlesischen und einen mährischen Teil. "Im Sozialismus wurde die Stadt für eine halbe Million Einwohner geplant", sagt Slach. So groß wurde sie nie.

Den Größenwahnsinn kann man heute noch betrachten, wenn man mit der Straßenbahn etwa eine halbe Stunde von der Altstadt in den Stadtteil Poruba fährt. Die in den Fünfzigerjahren errichtete Wohnsiedlung ist wohl eines der anschaulichsten Zeugnisse des sozialistischen Realismus im gesamten ehemaligen Ostblock. Mietskasernen mit Sanssouci-Zierrat aus Beton. Bei einem Bummel über den breiten Boulevard und durch die grünen Höfe wird spürbar, dass die am Reißbrett entstandene Wohnanlage bis heute gut funktioniert. Nur das Kulturhaus ist geschlossen, die Helden des Sozialismus bröseln.

Reiseinformationen

Anreise: Mit der Bahn von Prag, Wien oder Bratislava aus jeweils drei Stunden.

Übernachten: z.B. im Hotel Jan Maria mit Wellnessbereich und Restaurant, DZ ab 75 Euro, www.jan-maria.cz. Oder im Hotel Mercure im Zentrum, DZ ab 50 Euro, www.mercureostrava.cz

Weitere Auskünfte: www.visitostrava.eu, www.czechtourism.com

Dafür soll die Stadt nun eine neue Philharmonie erhalten. Ein Wettbewerb wurde ausgeschrieben, was ungewöhnlich ist für diese pragmatische Bergarbeiterstadt. Jan Žemla sieht das als gutes Zeichen an: "Ich muss heute nicht mehr dauernd erklären, wozu wir Kultur brauchen", sagt der Direktor der Janáček-Philharmonie.

Geht es nach ihm, spielt sein Orchester bald eine noch wichtigere Rolle im Kulturkonzert der Stadt. Nach sechs Jahren hat sich der aus Brünn stammende Mann langsam an die Stadt und ihre Einwohner gewöhnt. "Die Leute hier sind sehr direkt", sagt der 37-Jährige. "Die gehen nicht ins Konzert, um gesehen zu werden. Die kommen, wenn ihnen die Musik gefällt." So unprätentiös wie die Stadt und das Publikum sei auch das Orchester, das weltweit gefragt ist. Auch, weil es flexibler sei als andere Orchester, sagt Žemla. Kurzfristige Programmänderungen machten die Musiker ohne großes Murren mit.

David Mírek findet ein neues Konzerthaus unnötig. "Die Stadt sollte nicht in Beton investieren, sondern in Menschen." Ein Satz, den Geograf Slach fast genauso sagt. Auch die geplanten neuen Universitätsgebäude, auf die er sich eigentlich freuen sollte, werden nicht den gewünschten Effekt bringen, wenn niemand gute Forscher bezahlen wolle, sagt Slach. Worauf sich alle einigen können: Statt Konkurrenz steht Zusammenarbeit im Vordergrund. So nimmt auch die Philharmonie am Musikfestival Colours of Ostrava teil. Veranstalter sprechen ihre Programme ab.

Žemla sieht Ostrava im Aufbruch. Auch wenn es noch 20 Jahre dauern könne, bis die Stadt ihre neue Identität gefunden habe. Es ist diese Aufbruchsstimmung, die ihn und Slach in der Stadt hält und der gebürtige Ostrauer wie Plachá und Mírek aus der Ferne immer wieder zurückzieht. "Wer eine Idee hat, kann sie hier umsetzen", sagt Mírek. "Ostrava macht vieles möglich."

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Quelle:
SZ vom 25.04.2019
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