Bevor man in Lusern zu einer Wanderung "auf den Spuren des Bären" aufbricht, lohnt ein Besuch im örtlichen Dokumentationszentrum. Es ist der Geschichte und Kultur der Zimbern gewidmet, die am Beginn des zweiten Jahrtausends aus Bayern auf die Hochebene über dem Caldonazzosee zogen und ihren archaischen mittelhochdeutschen Dialekt bewahrten. Lusern bildet eine der letzten Inseln, auf denen Zimbrisch noch im Alltag gesprochen wird. Zusätzlich ist im Obergeschoss noch bis zum 2. November die Ausstellung "Die Rückkehr des Wolfes" zu sehen. Die scheuen Tiere finden auf dem menschenleeren und wildreichen Hochplateau ideale Bedingungen.
"Wir müssen die Leute aufklären - sie haben Angst", sagt Luigi Nicolussi Castellan. Der 70-Jährige war lange Bürgermeister und Präsident des Dokumentationszentrums. Heute führt er dort manchmal Gäste herum. Das Zentrum liegt gegenüber der Pfarrkirche in einem schmalen Gebäude aus behauenem Kalkstein, unverputzt, wie die meisten alten Häuser von Lusern. "Hier auf dem steinigen und trockenen Hochplateau gibt es keine Flüsse - also auch keinen Sand", erklärt Castellan. Den Sand hätte man, als es noch keine Straßen und Lastwagen gab, 800 Höhenmeter aus dem Valdastico heraufschleppen müssen, da ließ man es lieber bleiben.
Vom Dorfzentrum folgt man zunächst dem "Weg der Pilger": Vorbei an Häusern, an denen Madonnen über dem Eingang wachen, windet sich eine ungeteerte Straße, flankiert von flachen und mannshohen Steinblöcken, durch verwilderte, von Trockenterrassen durchäderte Felder. Eine Tafel erklärt, dass die Straße all jenen gewidmet ist, die das Dorf einst seufzend und um himmlischen Beistand bittend verließen, um auswärts Arbeit zu finden. Im verdorrten Gras zirpen Grillen. Bienen schwirren zwischen himmelblauen Bergastern, weißer Schafgarbe und dunkelviolettem Eisenhut hin und her. Blickt man hinunter auf das Dorf, blitzen die steilen Blechdächer in der Sonne, im Süden liegt die Poebene im Dunst. Von Bären zeigt sich keine Spur - so wird es bleiben, sieht man von grünen Tatzen ab, die an Felsen und Baumstämme gemalt wurden. Stattdessen kommt man an zugewucherten Schützengräben, den Resten von Festungen und Soldatenfriedhöfen vorbei: Im Ersten Weltkrieg verlief hier die Front zwischen Österreichern und Italienern. Ein Denkmal auf dem Dorfplatz von Lusern erinnert an die Gefallenen und den Morgen des 24. Mai 1915, als dort eine Bombe ein Mädchen tötete, das erste zivile Opfer an der damaligen Südgrenze des Habsburgerreiches.
Im Sommer wandern die Gäste, im Winter machen sie Langlaufauf der Millegrobbealm
Für eine Rast bietet sich die Baita del Neff an, eine Blockhütte auf einer Hügelkuppe, an der im Winter ein Skilift endet. Hier trifft man zum ersten Mal auf eine größere Menschenansammlung, auf Damen in hohen Schuhen, Daunenjäckchen um die Hüften gebunden, die am Arm ihrer männlichen Begleiter über den steinigen Pfad zur Hütte hinaufstöckeln. Die Neffhütte kann man auch mit dem Auto erreichen, bis auf die letzten steilen 50 Meter, wo der Wirt eigens ein Schild aufgestellt hat, dass man ab hier zu Fuß gehen muss. "Am liebsten würden sie mit dem Auto bis zur Haustür fahren", sagt Flavio Neff. Mit "sie" meint der Wirt die italienischen Touristen. Sie lieben es, auf dem Hochplateau von Lusern ihre Klapptische und Campingstühle zum Picknick aufzustellen. "Es ist, als hätte man am Caldonazzosee eine unsichtbare Mauer errichtet", sagt Neff über die voneinander abgegrenzten Besuchergruppen. Der See bildet den nördlichen Zugang zum Hochplateau, vor allem Deutsche und Holländer liegen am Wasser, in der Höhe sind vor allem italienische Gäste. Obwohl ein Apfelstrudel und ein Cappuccino mit Seeblick eigentlich jedem schmecken dürften.
Auf alten Militärstraßen mit Blick über die Hochebene geht es weiter Richtung Vezzenapass. Auf abgegrasten Wiesen liegen Kühe beim Wiederkäuen. Steinmauern grenzen die Weideflächen ein, Hagebutten und Vogelbeeren verfärben sich langsam in tiefes Rot. Auf die Nähe von Menschen lässt erst wieder die Obere Millegrobbealm schließen, wo an einem Drahtseil Arbeitshosen trocknen und neben dem Eingang ein Paar schlammverschmierter Gummistiefel steht. In einer Senke thront die Malga Millegrobbe, einst ebenfalls eine Alm, heute ein Gastbetrieb mit Spa und Wellnesscenter. Rund herum erstreckt sich ein 60 Kilometer langes Loipen- und Wegegeflecht.
Unter rustikalem Holzgebälk werden lokale Spezialitäten aufgetischt, etwa Priesterwürger, Strangolapreti: Im Trentino sind das Nockerln mit Mangold, Spinat oder Brennnesseln mit Parmesankäse und zerlassener Butter; oder Polenta mit Steinpilzen und geschmolzenem Vezzena-Käse. Stolz zeigt der Wirt Maurizio Osele seinen neuen Wellnessbereich, der unter der begrünten Sonnenterrasse versteckt ist. Gerade huscht ein Paar in Bademänteln vom Stellplatz herüber: Sie haben ein Heubad gebucht, mit bis zu 60 Heilkräutern.
Wieder auf dem Wanderweg, begegnet man Männern in Tarnfleckhosen, mit Stock und Weidenkorb, die auf Steinpilzsuche sind. Dann ertönt in der Stille plötzlich Gebell aus 60 Hundekehlen. Tiziano Ruffa kommt in einem Pick-up angefahren: Seine Huskys kennen das Motorgeräusch, für sie ein untrügliches Zeichen, dass es Futter gibt. Ruffa, Anfang sechzig, mit grau meliertem Bart und Pferdeschwanz, ist Musher. Er hat am Iditarod, dem härtesten Hundeschlittenrennen der Welt, teilgenommen, 1600 Kilometer quer durch das winterliche Alaska bei Temperaturen von bis zu minus 45 Grad. Auf der Millegrobbealm organisiert er im Winter Hundeschlittenrennen und bietet Ausfahrten für Anfänger und Fortgeschrittene an.
Ruffa, der aus Biasca im Tessin stammt, hat in Kanada und im Piemont gelebt. Seit einigen Jahren wohnt er mit seiner Frau und zwei Kindern in Lusern. Im vergangenen Winter habe er drei alte, von ihren Rudeln verstoßene Wolfsrüden gesehen - und zwar Dutzende Male, erzählt er. "Die Wölfe kommen ganz nahe heran, angelockt von den Hunden." An einem Nachmittag sei auch den Kindern beim Langlaufen ein Wolf begegnet. "Alle rannten schreiend davon. Nur mein elfjähriger Sohn blieb ruhig und hat mit dem Handy ein Foto gemacht", erzählt Ruffa.
Zurück in Lusern, trifft man auf der Piazza die gleichen Leute, die dort schon am Vormittag die Stellung hielten: Zwei alte Haudegen vor der Bar Rosso, der eine mit weißem Patriarchenbart, der andere mit geröteter Nase, ein Weinglas in der Hand. Eine Horde Halbwüchsiger brettert auf ihren Mountainbikes über die Piazza. Und die Wirtin der Bar Rosso, mit schwarzer Schürze um den Bauch, entschuldigt sich dafür, dass sie einen nicht gleich gegrüßt hat: "Sie waren ja am Morgen auf einen Kaffee bei uns!"
Das Leben mag in Lusern sehr gemächlich dahinplätschern. Eine Sache jedoch geht hier viel schneller als andernorts: Man braucht als Fremder nicht lange hier zu sein, um das Gefühl zu bekommen, man gehöre zumindest ein bisschen dazu.