Der laue Wind fährt in den regenbogenfarbenen Stoff. Hebt ihn, lässt ihn flattern. Mit jedem Mal, wenn sich die Fahne strafft in den Böen, ist die Schrift darauf zu lesen: Pace, Frieden.
In einer kleinen Stadt in der Nähe des Gardasees hingen schon vor einem halben Jahr die ersten Friedensfahnen, aus vereinzelten Fenstern über den historischen Stadtkern verteilt wehten die Wimpel. Erst nach und nach spannte sich die bunte Flagge, einem Regenbogen gleich langsam und stetig über das ganze Land.
Die Botschaft ist immer dieselbe: Frieden soll sein in der Welt, keine Kriege mehr, und besonders nicht dieser, der gerade am Golf tobt. Die Stadt des Friedens ist Rovereto, und die Einwohner zeigen, dass ihre Heimat dem Frieden verbunden ist.
Hier schlägt jeden Abend eine riesige Glocke einhundert Schläge, die an die Kriege der Welt erinnern sollen, die Schlachten und ihre Opfer. Im ersten Weltkrieg verlief die Front zwischen Österreichern und Italienern durch Rovereto, und auf dem nahe gelegenen Passo Pasubio kämpften Italiener und Österreicher erbittert gegeneinander. Die Stadt, die schon zur Römerzeit bewohnt war, wurde fast dem Erdboden gleich gemacht.
Von Kanonen zur Glocke
Auf Initiative des Pfarrers Don Antonio Rossaro goss man 1924 aus Kanonen der an dem Krieg beteiligten Nationen eine Glocke - die größte läutende der Welt, 3,36 Meter hoch, mehr als 22 Tonnen schwer, allein der Schwengel wiegt mehr als eine halbe Tonne.
Auf dem Colle di Miravalle oberhalb Roveretos hängt sie nun, mit der Inschrift "Nichts geht durch den Frieden verloren. Alles kann durch den Krieg verloren gehen", und mahnt zum Frieden, jeden Abend, mit tiefen, dumpfen Tönen.Die Glockenklänge wehen bis hinüber zum gegenüberliegenden Hügel wo das Castel Dante mit seinem Sacrario, dem Beinhaus, steht. Dort werden die sterblichen Überreste von 20.000 italienischen, österreichischen, tschechoslowakischen und ungarischen Gefallenen aufbewahrt.
Das Geläut hallt in den schmalen, schattigen Gassen Roveretos wider, in denen der Besucher "Momente des Friedens" erleben soll, so steht es in einem der Stadtführer. Das fällt nicht schwer in einer Stadt, die die meisten Italien-Urlauber nur von dem grünen Autobahnschild kennen.
Der Gardasee-Camper weiß außerdem, das bei Rovereto eine der Ausfahrten zum Lago abgeht. In die Stadt selbst fährt kaum jemand. Das macht die verwinkelten Straßen im Zentrum so schön. Weil nicht an jeder Ecke deutsche Speisekarten hängen. Weil es gemütlich zugeht in den Bars und auf den Plätzen. Weil die engen Gassen nicht verstopft sind mit Touristen.
Die Glockenklänge dringen hinein in die verwinkelten Geschäfte, in die Küchen, in die Bars und Restaurants, wo die Einwohner kurz innehalten.
Lerne man einen Roveretaner kennen, so wisse man nach drei Minuten bereits bescheid über sein ganzes Leben, sagt Alessandra, die Gemüseverkäuferin auf dem Markt. Einen Trentiner hingegen könne man heiraten, und man würde nie alles über ihn erfahren. Ob dem in der Tat so ist, weiß man natürlich nicht so genau.
Auf die Mitteilsamkeit der Roveretaner deutet allerdings schon der Umstand hin, dass man nicht einmal neue Batterien für den Fotoapparat erwerben kann, ohne gleich in ein längeres Gespräch über Wetter, Tomatenpreise und die Weltlage im Allgemeinen verwickelt zu werden.
Mozart und der Marzemino
Und der barista an der Piazza del Podestà gibt nicht Ruhe, ehe der Marzemino seines Onkels nicht wenigstens einmal probiert ist. Der Marzemino, der berühmte, leuchtend rubinrote Wein der Gegend, mundete schon Mozart im zarten Alter von 13 Jahren.
1769 gab er seine ersten beiden Konzerte in Italien - in Rovereto, in der Villa des Baron Todeschi. Dort wurde ihm der Marzemino kredenzt. Der junge Wolfgang Amadeus verewigte diese Erfahrung in seiner Oper Don Giovanni, wo er seinen Protagonisten ein großes Lob auf den "exzellenten" norditalienischen Wein aussprechen lässt.
Der Hall der Glocke übertönt das Rauschen des Leno, der durch den Ort fließt, klingt bis hinüber nach San Tommaso, vorbei an den Holzbalkonen, die an den Häusern entlang des Flussbetts zu kleben scheinen.
Er weht um die reichverzierten Gebäude im Stadtzentrum, deren geschmückte Fassaden und Portale von dem Reichtum, der durch die Seidenspinnerei entstanden war, erzählen. Im 16. Jahrhundert kam dieses Handwerk in die Stadt und ließ die Roveretaner reich und den Ort schön werden. Durch die nahegelegene Etsch blühte der Seidenhandel auf, weitete sich aus auf die Färbung und Herstellung von Stoffen.
Zu dieser Glanzzeit Roveretos, 1786, beginnt Goethe seine Italienreise und übernachtet in der Stadt. Mit seinen Knickerbockern schämt er sich angesichts der vornehm gekleideten Menschen um ihn herum derart, dass er sich in Verona sogleich einen Anzug schneidern lässt.
Der Glockenklang weht weiter, zum Castello, der alten Wehrburg, hinauf, welche die Familie der Castelbarco schon im Mittelalter errichten ließ. Um die Festung herum wuchs der Urkern Roveretos heran, der niedrig im Schatten des großen Burgfelsens liegt. Aus den Dächern heraus ragt nur der Kirchturm der Chiesa di San Marco und der Stadt-Campanile hinaus.
Von dort oben sieht man auch, wie viele Fahnen an den Balkonen und Fenstern der Stadt hängen, kleine bunte Tupfer in dem gelb-braunen Stein der Stadt.
Im sanften Abendlicht weht der Wind die Glockenschläge durch die Stadt, der sanfte Hauch fährt in den regenbogenfarbenen Stoff, und lässt die Aufschrift aufblitzen: Pace, Frieden.