Touristen-Guide in Berlin:"Warum ist kein Graffiti auf der Ostseite der Mauer?"

Artist Dimitry Vrubel cleans his mural 'Fraternal Kiss' at the East Side Gallery in Berlin

Der Künstler Dmitri Wrubel vor dem von ihm geschaffenen "Bruderkuss" an der East Side Gallery.

(Foto: Erik De Castro/Reuters)

Christian Seltmann führte mehr als vier Jahre lang Urlauber durch Berlin. Ein Gespräch über die schlimmsten Touristen, wahre Traumkunden und dumme Fragen.

Von Katja Schnitzler

Inzwischen hat Christian Seltmann mit seinen Büchern Erfolg, davor schlug sich der studierte Historiker unter anderem als Übersetzer, Fernsehredakteur, Rocksänger, Matratzenauslieferer und eben Touristen-Guide durch. Nun erscheint sein neues Buch "Where the Fuck is the Führer - Als Touri-Guide in Berlin" (Ullstein). Darin plaudert er über den kuriosen Alltag bei Touren durch die Hauptstadt. Und er versichert: Wenn die Kinder älter sind, steigt er wieder ein.

SZ.de: Herr Seltmann, was war die dümmste Frage, die Ihnen als Guide je gestellt wurde?

Christian Seltmann: Eine Schülerin auf Abiturfahrt fragte ernsthaft: "Warum gibt es kein Graffiti auf der Ostseite der Mauer?" Nachdem ich ausführlich die Sperranlagen, den Todesstreifen und auch das Wirtschaftssystem der DDR erklärt hatte.

Was fragen Touristen immer - und was wollen sie eigentlich wirklich wissen?

"Sind Sie ein Berliner?" Deutsche fragen das verlässlich, während Ausländern dies nicht wichtig ist. Den Deutschen geht es um den Authentizitäts- und Freakfaktor. Als Guides arbeiten oft schräge Typen: alte Dissidenten-Ostler, Autonomen-Lesben á la 80er-Jahre-Kreuzberg oder Stotterer. Da wollen die Leute wissen, ob diese Typen auch den Weg durch den Großstadt-Dschungel kennen. Ausgerüstet sind die Touristen für diese Expedition: Sie ziehen nur in Wanderklamotten und mit Wasserflaschen durch Berlin.

Welche Touristen sind die schlimmsten?

Billigheimer, die Rabatte kombinieren wollen. Fahrradtouren-Anbieter sind kleine Unternehmen, die scharf kalkulieren müssen, um sich den Laden in attraktiver Lage leisten zu können. Trotzdem stellen sich manche Urlauber mit ihrem Fahrrad, das sie vom Hotel geliehen haben, vor das Preisschild und rechnen die Kosten runter: Ein Leihrad kostet zwölf Euro, die Tour 19 Euro, aber ein Rad haben sie ja schon. Dann hätten sie noch den Rabatt der Welcome-Card, und eine Gruppe bekomme es doch billiger! Da müsste ich die umsonst rumfahren.

Aber es muss auch angenehme Kunden geben?

Das Beste sind Junggesellinnen-Abschiede.

Mit dem Rad auf Entdeckungsreise

Touristengruppe mit Fahrrädern vor dem Kanzleramt.

(Foto: dpa)

Das meinen Sie nicht ernst, oder?

Doch! Es ist sehr charmant, mit sechs Endzwanzigerinnen ab 17 Uhr ein entspanntes Aufwärmprogramm für den Abend zu absolvieren: Wir fahren zum Sonnenuntergang am Brandenburger Tor, dann trinken wir einen Sprizz am Gendarmenmarkt, und so entspannt geht es weiter. Ich bin dann nur der Reiseleiter mit Fotoauftrag.

Und wenn gerade keine Junggesellinnen vorglühen wollen?

Weil viele Touren für alle offen sind, kommen sehr verschiedene Leute zusammen. Das ist eine Herausforderung, die aber Spaß macht. Schön ist es, wenn sich nach ein, zwei Stunden diese Einzelleute zu einer Gruppe zusammenschließen, die interessiert nachfragt, aber auch von sich erzählt. Eben nicht, dass sie vorher schon mal am Brandenburger Tor standen. Sondern etwa DDR-Schicksale aus der eigenen Familie. Da kann man ganz intime, traurig-schöne Momente miterleben.

Aber wer schon mal eine Stadtführung mitgemacht hat, kennt auch den Typus Tourist, der stets versucht, die Autorität des Guides zu untergraben ...

Wobei es diesen klischeehaften Lehrertypen, der alles besser weiß, überraschend selten gibt. Schwieriger wird es mit Männern, sobald es um Technik geht - und das ist bei Rad- und Segway-Touren der Fall. Das sind Männer mittleren Alters, gerne Diplom-Ingenieure mit eigener Abteilung bei einem Autokonzern, die daheim ein 1400-Euro-Rad stehen haben und jetzt an den Touristenrädern herummäkeln.

Wie bremsen Sie die ein?

Über die Ehefrau. Während er vor dem Losfahren herummeckert, frage ich sie, ob ich ihre Jacke mit einem Spanngurt auf den Gepäckträger packen soll - und erledige das knitterfrei. Dann erinnere ich fürsorglich den Rest der Damen daran, vielleicht noch einem dringenden Bedürfnis nachzukommen, bevor es auf Tour geht. So habe ich die Frauen der Gruppe schon auf meiner Seite, und das männliche Gemecker läuft ins Leere. Sowas muss man elegant über Bande spielen.

"Ich habe alle verlorenen Touristen wiedergefunden. Bis auf einen."

Und auf Segway-Touren? Da ist schließlich noch mehr Technik im Spiel?

Das ist tatsächlich schwierig, weil sich Paare mit gehobenem Einkommen sowas als Praliné für ihn leisten: Sie durfte dafür in der Galeries Lafayette shoppen. Jetzt sind die Männer dran, und die wollen mit den Segways losrasen. Im schlimmsten Fall wissen sie von dem Speed Limiter, der die Geschwindigkeit des Segways begrenzt - und dass man den überlisten kann. Da muss ich manchmal autoritär werden und sie mit Fakten stoppen: Was so ein Gerät kostet, wenn man das zu Schrott fährt! 7000 Euro und mehr!

Auf Segways durch Berlin, mit Leuten ohne Fahrpraxis - eigentlich ein eher halsbrecherisches Geschäftsmodell. Wie viele Autos und Passanten haben Ihre Kunden bisher gerammt?

Passanten springen schnell genug aus dem Weg, vor allem Japaner schreien dabei richtig laut. Probleme mit Autos haben die Kunden weniger, sie scheitern eher an sich selbst: Segways sind anstrengender als die meisten denken. Da bekommen Kunden müde Beine wie beim Skifahren. Gerade nach der Kaffeepause verlieren einige die Kontrolle, die fahren dann mit dem Taxi zurück. Was manche aber auf fahrenden Segways veranstalten: Gerade vor dem Brandenburger Tor, wo es nur so wimmelt, filmen sie sich gegenseitig beim Fahren. Das ist katastrophal, die Leute nieten sich gegenseitig um. Bisher kamen bei mir aber noch alle mit Schürfwunden und dem Schrecken davon.

Welches Erlebnis während einer Tour bleibt Ihnen noch unvergessen?

Da gibt es so vieles ... Leute haben erzählt, wie sie aus der DDR geflohen sind. Reiche Gattinnen wollten mich zum Opernball verführen. Und am Anfang habe ich noch relativ viele Leute verloren. Wir fahren am Bahnhof Zoo los, folgen der Fanmeile, landen im Straßengewimmel von Mitte und schon fehlt einer. Und der hat immer, immer das Handy aus, das ist wie ein Gesetz. Also parke ich die Gruppe in einem Café und mache mich auf die Suche.

Haben Sie alle wiedergefunden?

Fast. Einen Schüler haben wir im Tiergarten verloren, der ist erst in der Jugendherberge wieder aufgetaucht. Hoffe ich.

Würden Sie selbst einem Stadtführer noch etwas glauben? Oder an einer Führung teilnehmen?

Tatsächlich war ich erst in der Würzburger Residenz. Die Führung fand ich ganz gut, aber an manchen Stellen war es zu fachsprachlich. Und manche Anekdote war doch ausgedacht! Aber eine fünfstündige Fahrradtour würde ich nicht mitmachen, das wäre mir zu riskant. Wer weiß, an wen man da gerät.

Gut, dann verraten Sie doch bitte allen Tourverweigerern: Was ist für Sie der schönste Ort in Berlin?

Der schönste Ort vielleicht nicht, aber mein Herzensort ist der Rosenthaler Platz. Hier trifft Mitte und Wedding aufeinander, Models und Lieferantenfahrer, es gibt 24-Stunden-Dönerläden, Modekram, Galerien; hier sind Kreative und Hipster, die Kreative werden wollen. Und die kurze Fünf-Sekunden-Grünphase hält die Fußgänger in Bewegung. Im Café St Oberholz sitzen Expats, dadurch kommt ein bisschen Hemingway-Flair auf. Das ist Berlin, ziemlich krass und rauh.

Und was können sich Touristen sparen?

Checkpoint Charlie, das ist Geschichts-Disneyland für Amis.

"Where the Fuck is the Führer?", hat Sie ein amerikanischer Tourist mal gefragt. Also: Wo kommt man ihm in Berlin nun am nächsten?

In der Gertrud-Kolmar-Straße. Auf der Rückseite der Neuen Reichskanzlei sind ein Parkplatz und ein kleiner Spielplatz mit einem Krokodilskopf, der eine Kleinkindrutsche ist. Da war einer der Ausgänge des Führerbunkers. Und dort soll die SS versucht haben, die Leichen von Adolf Hitler und Eva Braun zu verbrennen. Weil aber die sowjetischen Truppen schon da waren und schossen, mussten sie die Körper wieder in den Bunker zerren. In der Gertrud-Kolmar-Straße stehen heute jeden Tag gegen 14 Uhr 200 Touristen und starren in den Sandkasten.

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