Süddeutsche Zeitung

Tourismus in Haiti:In der ungeschminkten Karibik

Zweimal Hispaniola: Auf der einen Seite Haiti, auf der anderen die Dominikanische Republik. Eine Reportage aus dem Osten beschreibt, wie die einstige "Karibik für Arme" im Tourismus nun ganz auf Luxus setzt.

Der Westen wirkt wie eine andere Welt:

Haiti ist nicht erst seit dem Erdbeben von 2010 ein schwieriges Reiseland, Port-au-Prince galt lange als "gefährlichste Stadt der Welt". Nun gibt es Signale der Hoffnung.

Von Günter Kast

Von hier oben sieht Port-au-Prince aus wie eine normale Stadt in der Karibik: Lichtermeer vor pastellfarbenem Abendhimmel, dazwischen der unendliche Ozean. Die Gäste im Restaurant Observatoire in Pétion-Ville, der Oberstadt der Reichen, tragen elegante Kleider. Ober servieren frische Meeresfrüchte und Rum-Cocktails. Die andere Seite der Hauptstadt eines gescheiterten Staates wartet 500 Meter tiefer: die Cité Soleil, der monströse Slum der Kapitale. Ihretwegen galt Port-au-Prince den UN lange als die "gefährlichste Stadt der Welt".

Das ist sie nicht mehr, auch wenn generell Vorsicht geboten ist. Viele Viertel, in denen man früher an roten Ampeln besser nicht stehen blieb, können heute von Touristen besucht werden. Eine verwundete Stadt bleibt Port-au-Prince trotzdem. Es gibt zwar Bezirke, in denen von den Schäden des Erdbebens 2010 kaum mehr etwas zu sehen ist. Vielerorts aber sind die Folgen der Katastrophe augenscheinlich: Der zerstörte Präsidentenpalast wurde abgerissen, für den Wiederaufbau der Kathedrale fehlt das Geld und Wohnviertel der ärmeren Bevölkerung sehen aus wie ein in sich zusammengefallenes Kartenhaus.

Cyril Pressoir hat trotzdem Hoffnung für sein Land. Der Sohn eines weißen Haitianers und einer Französin hat in Paris und in Kanada studiert. Anders als viele seiner Landsleute ist er nach Haiti zurückgekehrt und hat ein Reiseunternehmen gegründet. Er arbeitet unter anderem für den kanadischen Veranstalter G Adventures, der die zwölfköpfigen Gruppe durchs Land führt, mit der auch wir unterwegs sind. Individual-Touristen trifft man in Haiti selten, das Auswärtige Amt rät ihnen zu besonderer Vorsicht, gerade in den armen Vierteln von Port-au-Prince. Pressoir ist dennoch zuversichtlich, dass seiner Heimat eine bessere Zukunft bevorsteht. Eine, in der Tourismus eine ähnlich große Rolle spielen wird wie bei den Nachbarn in der Dominikanischen Republik. "Wir haben sämtliche Zutaten", sagt er: "Palmenstrände, Sonne, Höhlen, Wasserfälle, farbenfrohe Städte, freundliche Menschen, vor allem aber: eine spannende Geschichte."

Haitis Geschichte ist in der Tat einzigartig. In der französischen Kolonie Saint-Domingue, dem einst durch Zuckerrohr- und Kaffeeanbau reichsten Überseegebiet, befreiten sich die afrikanischen Sklaven von 1790 an selbst. Die Haitianische Revolution brachte Haiti als zweitem amerikanischen Land nach den USA 1804 die Unabhängigkeit; wenig später wurde im Namen der schwarzen Mehrheit eine noch despotischere Herrschaft errichtet. Nirgendwo lassen sich diese beiden Epochen besser begreifen als in Cap-Haïtien im Norden des Landes. Heute erinnern dort nur noch bunt getünchte, langsam verfallende Kolonialbauten und eine Kathedrale an die Zeit der französischen Herrschaft.

Cap-Haïtien, das ist ungeschminkte Karibik. Eine andere als jene, die Urlaubern in den nicht weit entfernten Luxus-Anlagen der Dominikanischen Republik präsentiert wird. Hier sitzt man in kleinen Fisch-Restaurants mit bunten Plastikstühlen und Meersicht, aber eben auch mit Blick auf Müllhalden. Dafür kann man sich ohne Souvenir-Verkäufer im Schlepptau frei durch die Straßen bewegen.

Auf die Kreuzfahrtgäste wartet Weltkulturerbe. Aber die bleiben lieber im Resort

Allerdings bekommen die meisten Touristen vom Leben im Land nur wenig mit. Kreuzfahrt-Gäste der US-Reederei Royal Carribean zum Beispiel werden für einen Tagesausflug in das nahe Cap-Haïtien gelegene Resort Labadee gebracht. Hier hat die Reederei eine Halbinsel von der Regierung gepachtet. Die Urlauber kommen über das Wasser, eine Stadt-Tour in Cap-Haïtien ist nicht vorgesehen. Die Anlage wird von Sicherheitsleuten bewacht, Einheimische dürfen sie nicht betreten.

Die Kreuzfahrt-Gäste besichtigen auch nicht die mächtige Festung in den Bergen hinter Cap-Haïtien: Die Zitadelle Laferrière ließ der schwarze König Henry Christophe, einer der Führer des Sklavenaufstandes, von 1806 an errichten, um die junge Nation vor den Franzosen zu schützen. Das Unesco-Weltkulturerbe ragt wie ein überdimensionaler Schiffsbug aus der Landschaft. Sobald man aus dem Bus steigt, umringen einen junge Einheimische. "Cheval, cheval" rufen sie und bieten abgemagerte Reitpferde für den Aufstieg zur Zitadelle an, die nur auf einem gepflasterten Fußweg zu erreichen ist. Kunden findet die Dorfjugend schließlich in einer Gruppe amerikanischer Entwicklungshelfer. Die Mitarbeiter der NGOs sind seit dem Erdbeben nahezu die einzigen Weißen im Land. Jody Wilson aus Springfield, Illinois, ist mit ihrer Organisation "Campus für Christus" zum dritten Mal hier. Sie unterstützt Kinder, die durch das Erdbeben oder wirtschaftliche Not zu Waisen wurden. Haben die Einsätze etwas gebracht? "Unsere Projekte funktionieren", sagt sie und klingt doch sehr ernüchtert. "Irgendwann müssen sich die Menschen hier selbst aus dem Dreck ziehen. Doch dafür braucht es Jobs, die es nicht gibt."

Weiterfahrt in den Süden, in die Stadt Jacmel. Durch das Fenster eines klimatisierten Busses sieht Haiti auf den ersten Blick wie viele andere Karibikstaaten aus: bunt, freundlich, Holzstände mit reifen Papayas und Mangos am Straßenrand, ein tiefblaues Meer am Horizont. Doch dieser Ozean ist leergefischt und die Straßen winden sich über Hügelketten, die seit der Zeit der Kolonisatoren abgeholzt wurden. Heute wächst hier kaum noch etwas, während in der Dominikanischen Republik Öko-Touristen in Nationalparks Trekkingtouren durch den Regenwald unternehmen.

Jacmel, die 30 000-Einwohner-Stadt, ist bekannt für ihren lebensfrohen Karneval. Die bunten Pappmaché-Masken kann man hier das ganze Jahr über kaufen: Dämonen, wilde Tiere, Voodoo-Motive. Jacmel wirkt sauberer als Cap-Haïtien oder Port-au-Prince. Die Bürger scheinen sich um ihre Stadt zu kümmern. Im Zentrum findet man überall moderne Glasmosaike, mit denen Künstler Treppen und Wände verziert haben. Nur der Turm der Kolonialkirche steht seit dem Erdbeben schief. Ein alter Mann verkauft selbstgerollte Zigarren. Als Wechselgeld fehlt, legt er gratis noch eine Zigarre oben drauf. Die Menschen sind freundlich, unaufdringlich.

"Haiti bekommt zu viele negative Schlagzeilen"

Trotzdem halten sich deutsche Veranstalter wie Studiosus, Dertour und Tui fern von Haiti. Andere investieren. Die spanischen Ketten Barceló Hotels und Occidental Hotels wollen demnächst hier Häuser eröffnen. Carnival Cruise Lines hat den Bau eines Kreuzfahrthafens für 80 Millionen Dollar auf der im Norden gelegenen Insel Tortuga angekündigt. Und die Eigentümer des Flughafens von Punta Cana in der Dominikanischen Republik haben im Süden Haitis die Insel Île-à-Vache gekauft, auf der einmal Strandhotels entstehen sollen.

Sie alle hoffen, dass sich die politische Situation weiter stabilisiert. Die Verantwortung dafür tragen die UN-Blauhelme, die seit mehr als zehn Jahren im Land sind. Die Truppe ist bei der Bevölkerung verhasst, weil nepalesische Soldaten nach dem Erdbeben die Cholera eingeschleppt haben. In Port Salut steht ein Denkmal, das ein Lokalpolitiker errichten ließ. Es zeigt Haitianer, die im Staub liegenden UN-Soldaten auf ihren Blauhelm treten. Tatsächlich haben die Soldaten jedoch weite Teile des Landes befriedet, als der Staat im Bürgerkrieg zu versinken drohte.

Bedroht fühlt man sich in Jacmel nicht. Man kann unbehelligt am Strand spazieren gehen, auf eigene Faust durch die Gassen streifen, bei Hahnen- und Bullenkämpfen zusehen, in die türkisblauen Pools eines nahegelegenen Wasserfalls springen. "Haiti bekommt zu viele negative Schlagzeilen", findet Cyril Pressoir. "Die Kriminalität ist außerhalb der Hauptstadt niedriger als in Jamaika oder der Dominikanischen Republik." Marie und Cynthia Leger, Touristinnen aus New Jersey, sehen das ähnlich. "Unsere Großeltern mütterlicherseits stammen aus Haiti", sagen sie. Für die Schwestern ist es eine Reise zu ihren Wurzeln, in ein Land, von dem sie sich selbst ein Bild machen wollen. Ihr Fazit: "In den Momentaufnahmen der Medien klingt vieles negativer, als es in Wirklichkeit ist."

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Quelle:
SZ vom 19.11.2015/ihe
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