Tourismus in Berlin im Jubiläumsjahr:Wo geht's bitte zur Mauer?

Berliner Mauer, East Side Gallery

Touristen imitieren den legendären Kuss von Breschnew und Honecker an der Berliner East Side.

(Foto: Getty Images)

"Mauer-Specials" mit Russisch Ei, Mauersegmente zum Selbermeißeln und Disney-DDR am Checkpoint Charlie: Der Berliner Tourismus kreist im Jubiläumsjahr völlig um das einstige Hassobjekt. Nur müssen die Besucher dessen Reste erst einmal finden.

Von Verena Mayer

Wird man in Berlin auf der Straße von Touristen angesprochen, hört man sehr oft die Frage: "Wo ist denn bitte die Mauer?" Erst irritiert einen das, weil es nun mal der Witz an Berlin ist, dass die Mauer weg ist. Irgendwann begreift man, dass Touristen auf diese Frage keine historische Erklärung brauchen, sondern einfach zu einem der Mauerreste geschickt werden wollen, die es in der Hauptstadt noch gibt. Am liebsten zur East Side Gallery, dem längsten zusammenhängenden Teilstück. Bunt bemalt, voller Graffiti und mit dem berühmten Bild von Breschnew und Honecker darauf, wie sie sich innig auf den Mund küssen.

Allerdings ist das so eine Sache mit der Mauer. Diejenigen, die nach Berlin kommen, wollen sie sehen, anfassen und am liebsten ein Stück aus ihr heraushauen. Denn die Mauer steht für Berlin, so wie der Eiffelturm für Paris oder das Kolosseum für Rom. Alle, die in Berlin mit Tourismus zu tun haben, sehen das genauso. Die Tourismus-Vermarktungsgesellschaft Visit Berlin hat die Mauer im Jubiläumsjahr des Mauerfalls zum Schwerpunkt erkoren, mit Radtouren, Sonderausstellungen und Rundfahrten im Trabi. Hotels bieten ihren Tagungsgästen "Mauer-Specials" mit Russisch Ei und Schopska, das Westin Grand hat gar ein "Mauerspecht-Arrangement" ausgetüftelt. Ab 382 Euro im Doppelzimmer kann man sich ein Stückchen aus einem Mauersegment herausmeißeln, das vor dem Hotel aufgebaut wurde.

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Auf der anderen Seite sind diejenigen, die in der Stadt leben, die Berliner. Die meisten von ihnen wollten die Mauer immer schon weghaben, die reale genauso wie die viel zitierte Mauer in den Köpfen. Das macht die Mauer zu einer verzwickten, um nicht zu sagen: dialektischen Sehenswürdigkeit. Das, was einst eingerissen und auf dem Friedhof der Geschichte entsorgt werden sollte, wird jetzt als beliebte Touristenattraktion gepflegt.

Kein Wunder, dass die Mauerreste so schwer zu finden sind und die Leute ständig nach ihnen fragen. Es gibt einfach nicht mehr viele, sieht man von den Trümmern ab, die noch hie und da auf Baustellen oder in Hinterhöfen gefunden werden. So wie das Segment der "Grenzmauer 75", die am Rand von Kreuzberg verlief, L-förmig, 3,60 Meter hoch und mit Graffiti übersät. Jedes Stück davon kann man für 7000 Euro auf der Website des Unternehmens Berlin Story kaufen, das mit Verlag, Souvenirshop und Museum einer der rührigsten Mauerverwerter der Hauptstadt ist. Ansonsten muss man schon lange dem Streifen aus Pflastersteinen am Boden nachgehen, der den Mauerverlauf in der Innenstadt nachzeichnet. Oder dem "Mauerweg" folgen, den die Berliner Stadtverwaltung eingerichtet hat und der auf 160 Kilometern als Rad- oder Wanderroute um die einstige Mauerstadt herumführt.

Der Checkpoint Charlie ist nicht zu übersehen. Der frühere Grenzübergang ist so etwas wie das Disneyland des Mauertourismus. Zusammengeballt an einer einzigen Straßenkreuzung findet sich hier ein Sammelsurium aus Museen und Souvenirshops, dazwischen steht das Schild "You are leaving the American Sector". Uniformierte Soldatendarsteller schwenken vor dem weißen Grenzhäuschen die amerikanische Fahne, an den Ständen gegenüber kann man Russenmützen kaufen, und aus einem Lautsprecher ertönt Walter Ulbricht: "Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten." Und dann ist da noch das Werk des Künstlers Yadegar Asisi, der das geteilte Berlin in einem überdimensionalen Foto-Panorama nachempfunden hat, samt Häusern, Straßenschildern und Kneipen, eine einzige Mauerschau.

Doch selbst am Checkpoint Charlie fragten einen Touristen schon nach der Mauer. Na hier, antwortete man dann und zeigte auf eines der Mauerstücke, die zwischen den Imbissbuden aufgebaut wurden. Reisegruppen stellen sich davor an, um Selfies zu machen, daneben gibt es Currywurst für 2,50 Euro. "No, no", sagte einer der Touristen, ein italienischer Familienvater. "All the wall. Where is all the wall?"

"Dann müsste ick jetzt nicht hier stehen, wer weeß"

Die ganze Mauer, das ist für Berlinbesucher die East Side Gallery. Der Mauerrest zieht sich an einer viel befahrenen Straße gegenüber dem Ostbahnhof entlang, dahinter sind eine Wiese und das Spreeufer. Leute sitzen in der Sonne, am glitzernden Wasser ziehen Schiffe vorbei, an der Berliner Mauer herrscht heute Berliner Idylle. Eine Gruppe junger Leute aus Asien kommt auf Fahrrädern an und setzt sich ins Gras. Ihr Guide spricht britisches Englisch und sagt: "Stellt euch vor, was gerade in Hongkong abgeht. Genauso begannen damals die Leute im Osten zu marschieren." Die Jugendlichen gehen dicht an die Mauer, lesen die Sprüche und Graffiti.

Sie gucken die Kunstwerke an, die inzwischen restauriert oder übermalt wurden, wie der Bruderkuss zwischen Breschnew und Honecker, ein Bild, das wohl jeder auf der Welt kennt, die Berliner Mona Lisa gewissermaßen. Doch die Mauer ist auch hier nicht mehr intakt. Mehrere Teilstücke wurden herausgebrochen, zuletzt 2013 bei Baumaßnahmen, sie stehen jetzt auf der Wiese. Es gab Protest, Tausende kamen zur Mauer, um dagegen zu demonstrieren, dass die Mauer eingerissen wird. Ironie der Geschichte. Und ein Beispiel dafür, dass es oft der Tourismus ist, durch und für den Dinge erhalten werden.

Am stärksten präsent ist die Mauer aber an der Bernauer Straße, auf dem weitläufigen Areal der Gedenkstätte Berliner Mauer. Die Mauer ist hier als das erhalten, was sie war, ein Ort des Schreckens, mit Wachtürmen, Todesstreifen, Schießbefehl. Die Straße entlang sind hohe rostrote Stäbe eingelassen, die den Mauerverlauf abbilden und die Teilung der Stadt sichtbar machen. Auf der einen Seite die Neubauten des Westens, auf der Ostseite schöne alte Häuserblöcke, die abrupt enden, wo die Mauer war. Und rundherum der geschäftige Bezirk Mitte, und der Mauerpark mit seinen Flohmärkten, dem Trubel und den Spontanpartys ist auch nicht weit. Die Bernauer Straße ist zugleich ein Ort des Gedenkens und des urbanen Lebens.

Die obligaten Mauerstücke gibt es auch hier zu kaufen. Im Souvenirshop hat jedes Regal Mauer-Form, die Mauerteile seien bei den Touristen der absolute Renner, sagt die Verkäuferin. Es gibt sie in allen Größen und Formen, eingeschweißt in Postkarten oder in einer Glasumrahmung für 12,99 Euro. Sie stammen von Souvenirhändlern, die sich Mauerteile gesichert haben und die bemalte Außenschicht als besprühte Bröckchen aufbereiten. Nicht selten sind in Berlin aber auch Fälschungen in Umlauf. Ja, sagt die Frau, hätte sie damals als Mauerspecht Stücke aus der Mauer gehauen und im Keller gehortet, "dann müsste ick jetzt nicht hier stehen, wer weeß".

Zum Mauerfall-Jubiläum wird sie jedenfalls gut zu tun haben, für das Wochenende um den 9. November erwarten die Tourismusverantwortlichen einen Besucherrekord. Dann wird es in der Hauptstadt wieder eine Mauer geben. In Form von Tausenden leuchtenden Ballons nämlich, die die Mauer als Lichtinstallation nachzeichnen. Bis sie in die Luft aufsteigen und sich die Grenze wieder auflöst.

Wobei die wahren Attraktionen wie so oft dort sind, wo man sie nicht vermutet. In Kreuzberg etwa, in einer stillen Gegend hinter dem Mariannenplatz. Eine wuchtige Kirche, ein Platz, gediegene Altbauten. Und mittendrin ein wuchernder Garten mit einer Art Barackenhaus. Aber was für eines, aus Holzbrettern und Latten zusammengesetzt, oben thront eine Veranda, eine Ziegelmauer ist bemalt, davor bunte Sofas und eine Couch. "Baumhaus an der Mauer", steht auf einem Schild, dazu eine Handynummer. Wenn man sie anruft, erfährt man seine Geschichte.

Die handelt von einem türkischen Einwanderer. Der kam in den 1980ern aus Anatolien nach Berlin und suchte ein Fleckchen für einen Garten. Er fand eine Brache direkt am Mauerstreifen, in einem Stück Niemandsland, das zur Ostseite gehörte, wegen des unsauberen Grenzverlaufs aber im Westen lag. Dort begann der Mann, Zucchini, Tomaten und Bohnen zu ziehen, argwöhnisch beäugt von den DDR-Soldaten. Er ließ sich nicht einschüchtern, pflanzte, baute. Heute sitzt der alte Mann und sechsfache Vater, dessen Haus eine kleine Sehenswürdigkeit geworden ist, an schönen Tagen immer noch in seinem Garten. Und wenn man Glück hat, hält er ein Schwätzchen. Erzählt von seinem Leben und seinem Garten. Und das Wichtigste von allem: davon, wie man Mauern überwindet.

Informationen

East Side Gallery: Die Open-Air-Galerie verläuft auf der Mühlenstraße zwischen dem Berliner Ostbahnhof und der Oberbaumbrücke. Informationen zu Geschichte und Künstlern gibt es auf der Homepage: www.eastsidegallery-berlin.de.

Checkpoint Charlie: Der ehemalige Grenzübergang befindet sich auf der Friedrichstraße (43-45). Daneben ist das Mauermuseum, das ganzjährig von 9 bis 22 Uhr geöffnet ist.

Gedenkstätte Berliner Mauer: Der zentrale Erinnerungsort erstreckt sich beidseits der Bernauer Straße. Die Ausstellung im Gedenkstättenareal ist ganzjährig Montag bis Sonntag, 8 bis 22 Uhr, geöffnet.

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