Tourismus im ländlichen China:So schön ruhig, so friedlich

An ethnic Miao woman walks through a field in morning fog in the village of Basha, Congjiang county

Morgenstimmung im Dorf Basha.

(Foto: Jason Lee/Reuters)

Inzwischen haben auch viele Chinesen genug von überfüllten Städten. Es zieht sie in die Provinzen - in denen sie auf ethnische Minderheiten treffen. Diese müssen sich an ihre Rolle als Attraktion noch gewöhnen.

Von Monika Maier-Albang

Lu Yong Cheng ist gestorben, mit 78 Jahren, und das halbe Dorf ist gekommen, um von ihm Abschied zu nehmen. Der Sarg, aus einem Stamm gefertigt, liegt unter dem Trommelturm, der sich über die Häuser von Zhaoxing erhebt. Zwei Schweine und einen Wasserbüffel haben sie geschlachtet und zerlegt. Wer früher gehen muss, nimmt sich ein Stück Fleisch an der Schnur mit, wer bleibt, wird später essen, was jetzt parallel zur Trauerfeier in einer Seitenstraße in drei großen Woks zubereitet wird. Männer haben das Fleisch in Streifen geschnitten, Frauen das Gemüse.

Zuerst aber muss es krachen und rauchen, und während das Feuerwerk abbrennt, bekommen die Gäste Zigaretten geschenkt, um richtig wach zu werden. Schließlich hat die Zeremonie um vier Uhr morgens begonnen. Jetzt, da der Zug aufbricht in die Berge, zum Friedhof, ist es halb acht. Die ersten Touristen stehen Spalier mit ihren Teleobjektiven. "A funeral, lovely", sagt eine Chinesin, die in den USA lebt und sich gerade ärgert, dass sie den Anfang verpasst hat.

Tourismus im ländlichen China: undefined

Ein bisschen Intimität ist dem Ort also noch vergönnt gewesen, bevor der Tag anbrach und mit ihm der neue Alltag. Seit Jahresbeginn ist das im Süden Chinas in der Provinz Guizhou gelegene Zhaoxing ein touristisches Vorzeigedorf, das bislang wenige einheimische Urlauber, geschweige denn ausländische Touristen bereist haben. Nun aber hat die Regierung 26 Millionen Yuan, rund 3,3 Millionen Euro, in die Erschließung Zhaoxings gesteckt, laut offiziellen Angaben, und andere Zahlen als die offiziellen gibt es nicht. Man hat ein großes Eingangstor an den Teich gesetzt, am Abend wird es beleuchtet. Ebenso wie der spitz zulaufende Trommelturm, der Versammlungs- und Kultort der Einheimischen, die zum Volk der Dong gehören und damit zu jenen acht Prozent Chinesen, die keine Han sind.

Der Weg durchs Dorf ist neu gepflastert, Elektro-Shuttles bringen die Touristen zu den Gasthäusern, die früher Bauernhäuser waren. Die Vorbesitzer gehören nun zu den Wohlhabenderen im Ort. Manche Bauern versuchen selbst ihr Glück als Vermieter. Wer durchs Dorf geht, kann den Frauen dabei zusehen, wie sie blaue Stoffbahnen im Fluss waschen. Die Textilien färben sie zuvor mit Indigo. Ist der Stoff trocken, wird er geschmeidig und glänzend geklopft; das rhythmische Hämmern ist in jeder Straße zu hören. An den Balkonen trocknet Klebereis, die Ähren sind zu Büscheln gebunden. Überall stehen Garküchen, werden Würstchen gegrillt, Wespen in der Wabe und Frösche angepriesen. Den Einheimischen ist jedes Protein recht, das sich mit Reis und Gemüse scharf zubereiten lässt. Am Abend treibt eine Bäuerin Kuh und Kalb in ihr Haus; der Stall ist traditionell im Erdgeschoss, dort, wo nun Cafés und Boutiquen einziehen. Der erste Designer verkauft hier schon Handtaschen, gefertigt aus dem Stoff der Dong-Frauen, für einige Hundert Euro das Stück. Die Frauen verlangen im Laden 300 Yuan, 38 Euro, für eine 20 Meter lange Bahn, an der sie zwei Monate lang gearbeitet haben - vom Pflücken der Blätter bis zum sechsten und letzten Durchgang Färben, Waschen, Klopfen.

100 Yuan, an die 13 Euro, zahlt jeder Besucher am Eingangstor. Das Geld bleibe im Dorf, heißt es: Müllabfuhr, Straßenreinigung, was eben so anfällt, wenn durch einen Ort, in dem etwa 1000 Familien leben, 450 000 Besucher gehen. So viele Touristen sollen zwischen Januar und Oktober dieses Jahres gekommen sein, seit der Ort ins Licht gerückt wurde. 2009 zählten die Behörden gut die Hälfte. Aber 2009 gab es auch noch keine Schnellstraße durch die gebirgige, oft im Nebel liegende Provinz Guizhou, kein Anrecht auf mindestens fünf Tage bezahlten Urlaub, den Chinesen ohnehin erst seit ein paar Jahren kennen. Und keine um sich greifende Landlust bei den Städtern, die dem Stau, den engen Wohnungen und der schlechten Luft in ihren Mega-Metropolen zu entfliehen suchen, wenigstens für ein paar Tage.

Frau Coowei, die sich Angela nennt, ist sogar länger geblieben, acht Wochen nun schon. Die 30-Jährige kommt aus der Nähe von Peking, wo ihre Eltern wohnen und die Freunde, die ein Leben führen, das sie nicht mehr leben will. "Du hast keine Zeit nachzudenken, alle sind immer beschäftigt, alles ist hektisch." Sie habe, sagt Angela Coowei, nach einem Ort gesucht, "wo ich Zeit und Raum habe, über mich nachzudenken". Ein Bekannter, der Künstler ist, hatte in Zhaoxing gerade ein kleines Hotel aufgemacht; Angela Coowei führt es nun: vier Zimmer, ein Gemeinschaftsraum, eine Bar. Am Morgen richtet Coowei, die in der Stadt bei einer Medizinfirma gutes Geld verdient hatte, das Frühstück, am Nachmittag putzt sie, abends bedient sie. Dazwischen geht sie raus auf die Felder, malt, fotografiert. Ihren Freunden postet sie die Bilder: reife Brombeeren am Strauch, Reisfelder, in denen die Schuppen der Fische silbern glitzern, weiß blühende Kamelienbäume. Hey Leute, so sieht Natur aus! Und so eine brave Aussteigerin made in China.

China Reise

Angela Coowei hat dem Leben in der Stadt den Rücken gekehrt und lebt jetzt in Zhaoxing.

(Foto: Monika Maier-Albang)

Für Politik interessiere sie sich nicht, sagt Coowei, und damit steht sie für viele in ihrer Generation, die zwar Kritik wagen, wenn es um Umweltverschmutzung oder Lebensmittelskandale geht, aber das System nicht grundlegend hinterfragen. Warum unzufrieden sein, warum demonstrieren wie die jungen Leute in Hongkong, die selbst gebildete Chinesen im Sinne der Staatspropaganda als "undankbare Kinder" ansehen? Man hat ja so viel mehr Möglichkeiten als noch die Eltern, denen Arbeit und Wohnung zugeteilt wurden. Und deren Jahresurlaub der Betriebsausflug war. Die jungen Chinesen reisen individuell. Und selbst die mittlere Generation wird mutiger: Liu Yuxia etwa, die 43 Jahre alt ist und aus der 14-Millionen-Stadt Chengdu stammt, hat einen Kleinbus gemietet und ist mit neun Freundinnen 1500 Kilometer gefahren, um die Dörfer von Guizhou zu sehen. Nun steht Frau Liu vor der ratternden Getreidemühle im Dorf Langde, neben Schweinen und Hühnern, und schwärmt: "Das ist so ruhig hier. Und so friedlich."

"Ich wollte lieber zurück aufs Feld und frei sein"

Das Leben ist zwar rau in der Stadt, wo es zu viele Menschen gibt und damit den Druck, immer besser sein zu müssen. Aber es hat auch seine angenehmen Seiten: Bars, Shops, ein Auto. Ihre Freunde, sagt Coowei, würden das nicht aufgeben wollen, zumindest nicht für einen Ort, an den das flinke Amazon-Pendant Taobao zwei Wochen für eine Lieferung braucht. Lieber ist ihnen das gezähmte Land, das in der Stadt zu finden ist. In Shanghais Boutiquenviertel French Concession lassen sich Designer von den Trachten der Miao- und Dong-Frauen inspirieren. Oder sie verkaufen gleich deren silberne, bunt bestickte Armreifen, nur dreimal so teuer. Und die Wände des Nobelrestaurants Lost Heaven auf dem ehemaligen Gelände der US-Botschaft in Peking sind bestückt mit Fotos, auf denen Bauern zu sehen sind. Sie stehen in Reisfeldern, tragen Körbe über der Schulter. Eine Sehnsucht nach dem alten China wird hier bedient, nach einer Kultur, die unter Mao verpönt war. Nun suchen die Städter nach den Wurzeln des Landes - und das sogar bei den ethnischen Minderheiten, die lange als minderwertig galten.

Dabei haben Völker wie die Miao oder Dong eine eigene Kultur, auch eine eigene, nur mündlich überlieferte Sprache, weshalb es nicht einfach ist, als deutscher Gast zu verstehen, was die Wahrsagerin im Dorf Langde, Frau Yang, ihrer Kundin zu sagen hat, die ebenfalls Yang heißt. Ein Helfer übersetzt ins Mandarin, die Sprache der Han-Chinesen, die noch immer wenige in den Dörfern beherrschen. Ein zweiter übersetzt ins Englische: Dein Schwiegervater fühlt sich nicht gut, opfere eine Ente. Dein Sohn wird noch erfolgreicher, opfere einen kleinen Hahn. Deine Tochter bleibt in der Stadt. Frau Yang, die Kundin, blickt auf, verwirrt. Kein Hahn, keine Ente wird die Tochter zurückholen? Ihre Gefühle seien ambivalent ob dieser Prophezeiung, sagt Yang Ayong später. "Ich bin schon traurig, weil sie dann nicht bei mir sein kann. Aber ich freue mich auch für sie. In der Stadt hat sie eine bessere Zukunft." Jura studiert die Tochter, vor ein paar Jahren, als es kaum Schulen in dieser entlegenen Provinz gab, wäre das noch undenkbar gewesen.

"Sie hoffen, dass sie reich werden"

Während die Städter das Landleben verklären, suchen viele Dorfbewohner hier ihr Glück in den nahen Städten, in Guiyang oder Kaili, in denen Hochhäuser, wie sie hier sagen, wie Bambus aus dem Boden schießen - und die Fabriken dazu. Der Ausbau des Tourismus ist ja nur ein Nebenprodukt; die Provinz Guizhou, eine der ärmsten Chinas, hat große Vorkommen an Kohle, Phosphor, Quecksilber. Der Ausbau der Infrastruktur ist vor allem ein riesiges Wirtschaftsförderprojekt mit guten Gewinnaussichten für Immobilienspekulanten.

Frauen wie Männer vom Dorf zieht es in die Städte, zumindest für ein paar Jahre, um Geld anzusparen für die Hochzeitsfeier, für ein eigenes Haus. Aber so leicht ist das nicht. 500 Yuan, 64 Euro, habe sie verdient als Arbeiterin in einer Elektrofirma, erzählt die 28-jährige Lu Xing Tao - ein Monatslohn. Gearbeitet hat sie dafür sieben Tage die Woche, zwölf Stunden am Tag. Zehn Jahre ist das her, in der Zwischenzeit haben sich die Wanderarbeiter mehr Rechte erkämpft. Lu Xing Tao hielt es damals nur zwei Jahre in der Stadt aus. "Ich wollte lieber zurück aufs Feld und frei sein", sagt sie. Die Feldarbeit blieb ihr dann aber doch erspart. Heute ist Lu Xing Tao eine der Sängerinnen im Show-Team von Zhaoxing.

Die Auftritte vor Touristen gehören zum festen Programm in Dörfern wie Zhaoxing oder Basha. Die Frauen, mit viel Silber im Haar, tanzen und singen, die Männer spielen auf traditionellen Instrumenten. Die Gäste werden zum Essen an den Langtisch gebeten oder mit Reiswein empfangen, den man hier in jeder Lebenslage trinkt. Alles wirkt schön bunt und archaisch, und die, die es ins Ensemble schaffen, verdienen gut damit. Wobei auch die älteren Frauen nach der Aufführung geschäftstüchtig die Gäste einkreisen, um ihnen Schmuck und bestickte Stoffe anzubieten. Aber was ist mit denen, die auf dem Feld stehen? Wie sie ernten, ihre Kleidung im Fluss waschen, wie die Mütter ihren Babys den Po abwischen - alles wird fotografiert. Und die Menschen können sich nicht aussuchen, ob sie ein derart öffentliches Leben führen wollen. Die Regierung legt fest, welches Dorf "touristisch erschlossen" wird. In der Region bei Zhaoxing sind es derzeit sieben Dörfer; bis 2015 sollen es 22 sein.

"Die Dorfbewohner freuen sich über die Touristen. Sie hoffen, dass sie reich werden", sagt die angehende Landschaftsarchitektin Wang Yu. "Manche schaffen das auch. Aber meist kommen Investoren, Han-Chinesen, kaufen die Häuser auf und machen das große Geschäft." Die 25-Jährige studiert an der Hochschule für Bildende Kunst in Peking, reist gerade für ein Forschungsprojekt durch die Dörfer von Guizhou, wo sie Gäste und Einheimische befragt. "Die jungen Touristen wollen so viele Shops wie möglich", sagt Wang Yu, "und die meisten Touristen wissen so gut wie nichts über das Leben der Dorfbewohner. Raus aus dem Bus, Show, rein in den Bus. Fertig. Das ist nicht gut so", kritisiert die Studentin. Weniger Rummel, mehr Information, das wünscht sie sich. Was wohl Yang Abu, die Wahrsagerin, dazu sagen würde? Opfere einen Stall voller Hühner!

Zum Jahresende wird die Schnellzugtrasse durch die Provinz Guizhou fertig sein, Zhaoxing bekommt eine Haltestelle. Angela Coowei, die Aussteigerin, wird dann wohl tiefer in die Felder gehen müssen, wenn sie ungestört Kamelienblüten fotografieren möchte.

Informationen

Anreise: Mit Air China über Peking oder Chengdu nach Guiyang und zurück ab ca. 800 Euro. Ab 2015 gibt es von dort einen Schnellzug nach Zhaoxing.

Übernachtung: Tongsang Guesthouse Zhaoxing, DZ inkl. Frühstück ab 25 Euro, Tel.: 0086/(0)855/6098345

Reisearrangements: Der Studienreiseanbieter Gebeco bietet z. B. eine neun Tage dauernde Reise "Unbekanntes Südchina privat entdecken" an, ab 1815 Euro pro Person, inklusive Reiseleitung, Inlandsflüge, Transfers, Übernachtungen, Eintrittsgelder und Mahlzeiten. Zu den Minderheiten Südchinas führt auch eine 16-tägige Gebeco-Gruppenreise, ab 2495 Euro, inkl. Flüge, Service-Center Tel.: 0431/54 46-0, contact@gebeco.de, www.gebeco.de

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