Süddeutsche Zeitung

Tour durch Amsterdam:Auf kaltem Pflaster

In Amsterdams Rotlichtbezirk arbeiten statt Prostituierte mittlerweile ein Radiosender und Modeschöpfer. Mit einem ehemaligen Polizisten können Besucher aber immer noch alte Ecken des Viertels besichtigen - und verruchte Details erfahren.

Von Evelyn Pschak

Wer nachmittags den engen Zeedijk entlang Richtung Chinatown schlendert, befindet sich in einem nicht ganz gewöhnlichen Sträßchen der niederländischen Hauptstadt, dessen starke Rechtskrümmung noch den einstigen Seedamm nachzeichnet, den es im Namen trägt. Es gibt zwar auch hier viele Fahrräder, Klinkersteinpflaster und Cafés mit Außenbestuhlung, doch in der leichten Brise weisen Regenbogenfahnen träge auf gleichgeschlechtlich liebendes Kneipenpublikum hin.

Hinter einem Schaufenster für Fetischkleidung schnalzt ein Maskierter plötzlich mit der Peitsche, um gleich wieder in die unbewegte Pose einer Mannequinpuppe zu verfallen. Ein kleiner Junge weint, sein Eis liegt auf dem Trottoir. In Amsterdam, so zeigt sich, taugt der Rotlichtbezirk zum Familienausflug.

Im schattigen Winkel zum Sint Olofssteeg steht Piet Middelkoop und klappt seinen tragbaren Rechner auf. Die hochgeladenen Schwarz-Weiß-Fotografien aus den 70er- und 80er-Jahren klären schnell, wie wenig der Zeedijk noch vor 30 Jahren zum Idyll taugte. "Wer hier nur einfach durchging, war schon verdächtig", sagt der 57-Jährige. "Es gab kaum Touristen, aber viele Drogenabhängige."

Middelkoop muss es wissen, der ehemalige Polizist lief hier Streife. Heute bietet der untersetzte Holländer interessierten Besuchern eine Zeitreise in die jüngere Stadtgeschichte, zurück ins Jahr 1980, das er durch zwei Ereignisse markiert: "Beatrix wurde Königin der Niederlande. Und Amsterdam war voller Hausbesetzer." Damals war Middelkoop 25 Jahre alt und im dritten Dienstjahr bei der Polizei. Insgesamt acht Jahre lang patrouillierte er durch De Wallen, wie der Rotlichtbezirk Amsterdams heißt. Middelkoop hat einen Comic über die alten Zeiten herausgegeben, man erkennt ihn selbst darin nicht gleich wieder:

Bärtig, mit wehender Krawatte und noch vollem Haar verfolgt er auf der Coverabbildung einen Flüchtigen, vorbei an platinblonden Lebedamen und Rastafari-Dandys. Heute wirkt der Amsterdamer eher gemütlich, wenn auch ein modisches Unterlippenbärtchen und cyanblaue Turnschuhe signalisieren, dass er noch nicht zum alten Eisen gehört.

An der kleinen Querstraße des Zeedijks, dem Sint Olofssteeg, wo heutzutage im Café Verhoeff unbescholtene Touristen ihr Grolsch trinken, etablierten sich, so erzählt Middelkoop, in den 70er-Jahren die ersten festen Drogenumschlagsplätze der Stadt. "Damals gab es hier die ersten zwei Cafés in surinamischer Hand, das Emile's Place und das Babalu." Opium und Heroin hätten zwar mit den Chinesen schon in den 20er- und 30er-Jahren den Weg nach Holland gefunden, doch "die Chinesen blieben immer unter sich und sprachen nie gut genug Holländisch, um das Zeug auf der Straße verkaufen zu können", sagt Middelkoop.

Als Anfang der 70er-Jahre Einwanderer aus Surinam nach Amsterdam gekommen seien, hätten sie diese Lücke gefüllt. "In den Cafés begann das öffentliche Dealen." Die neue Ausrichtung der Straße sei schnell bekannt gewesen, erzählt der Holländer. Und niemand sei mehr nur für ein Bier hergekommen. Zu gefährlich sei es auf der Gasse geworden, in der sich die Junkies in ihrer Gier nach dem nächsten Schuss sogar gegenseitig beklaut hätten. "Wegen dieser beiden Bars gingen alle anderen Kneipen hier pleite", schildert der Ex-Polizist den Niedergang des Viertels.

Auf Middelkoops Fotos ähnelt der Zeedijk einem Bretterverschlag. Sämtliche Häuserfronten sind mit Holzplanken vernagelt, die Läden zu, die Eingangstüren verbarrikadiert. An einigen der verfallenden Häuser hängen Schilder, in denen die letzten verbliebenen Anwohner ihr Viertel zum Rampgebied, zum Katastrophengebiet, ausrufen. Dennoch gab es einige Unerschrockene, die sich hierher wagten: "Wir standen am Straßeneingang in unseren Uniformen, und ältere Damen rauschten an uns vorbei, einen Schirm hochgereckt, um Reisegruppen den Zeedijk entlang zu führen. Wir versuchten, sie davon abzuhalten, warnten, dass vor der nächsten Brücke alle ausgeraubt sein würden. Die Ladys blieben meist stur. Doch in acht von zehn Fällen hatten wir recht."

30 Jahre später führt er nun selbst über das ehemals heiße Pflaster. Viel hat sich hier getan, gerade in den vergangenen fünf Jahren. Die Stadt Amsterdam hat das historische Zentrum und damit auch das Rotlichtviertel wiederentdeckt und unternimmt einige Anstrengungen, es aufzuwerten. Im Strategiepapier von 2007 formuliert der Stadtrat das Ziel, zentrale Gegenden wie Damrak und De Wallen von Kriminalität und Korruption zu befreien. Dafür geht es Bordellbesitzern sowie den Betreibern von Peep Shows, Geldwechselläden, Massagesalons und billigen Hotels an den Kragen, da sie, auch ohne Gesetzeswidrigkeiten, dem kriminellen Milieu zumindest förderlich seien.

Ein "Red Carpet", so der Name des Programms, soll den Touristen empfangen, sobald der aus dem Hauptbahnhof tritt. Zwar spaziert der Ankömmling bei seiner Tour über den Damrak in Richtung Königlicher Palast noch an recht vielen einschlägigen Etablissements vorbei - aber es werden weniger.

De Wallen, südöstlich des Damraks, darf als Rotlichtviertel weiterhin bestehen, lässt der Amsterdamer Rat verlauten, nur nicht dessen "dunklere Seite". Auch das idyllische Kanalsträßchen Oudezijds Voorburgwal soll Prostitutionsgrund bleiben. Ein Großbordellbesitzer, dem die meisten anliegenden Häuser gehörten, hat einige davon verkauft. Auch die Stadt war unter den Bietern, um das Gewerbe zu vertreiben. Seitdem stehen zig Fenster leer, die bis dahin mit Damen in Unterwäsche ausgefüllt worden waren.

Oder die Häuser erfuhren eine Umgestaltung: Der Sender Red Light Radio fand hinter einem der Fenster Unterschlupf. Und einige Studio-Ateliers, in denen junge Modeschöpfer wie Bas Kosters oder Mada van Gaans ihre Entwürfe präsentieren. In der ehemaligen illegalen Spielhölle am Achterburgwal eröffnete das Restaurant Mata Hari. Auf der Sommerterrasse zum Kanal bestellen heute Amsterdamer in ihren Dreißigern Büffelmozzarella aus Groningen und schnippen ihr Weißbrot den Schwänen im schwarzgrünen Wasser zu.

Der nahe Oudekerksplein um die Alte Kirche soll bald komplett von Fenstern befreit sein, so verlangt es das Sanierungskonzept der Stadt: Im Jahr 2006 warben die Prostituierten der Innenstadt noch aus 480 Fenstern um Freier, davon werden laut Strategiepapier 200 geschlossen, die Hälfte davon ist bereits dicht. Weniger Fenster sind leichter zu beaufsichtigen, argumentiert der Stadtrat. Gefährlich scheint das Milieu nicht mehr zu sein. Es läuft eher Gefahr, sich im Entertainment aufzulösen. Man flaniert. Nicht mehr nur von Striptease-Bar zu Live-Liebesakten, sondern eben auch vom schicken Designerstore zum Vier-Sterne-Hotel.

Noch sind die Straßen in De Wallen ein bisschen graffitibunter, ein bisschen heruntergekommener, ein bisschen neonlastiger als in den schmucken Vierteln wie beispielsweise dem Jordaan oder am westlichen Grachtengürtel. Doch bis 2015 soll das Zentrum stadtplanerisch aufgemöbelt und in Teilen restauriert werden - etwa die enge Warmoesstraat, die parallel zum Damrak verläuft.

Genau hier beginnt Piet Middelkoop seine Tour durchs Rotlichtviertel. In der quirligen Warmoesstraat befand sich früher sein Revier, von dem man noch zu Fuß oder zu Pferd loshetzen musste, denn mit einem Einsatzwagen wäre man nach 20 Metern stecken geblieben, so der Ex-Polizist: "Irgendwo lag immer einer im Weg." Natürlich begrüßt er die Entwicklung hin zu mehr Sicherheit und Spaziervergnügen. Das Milieu im Rotlichtviertel habe sich seit den 80er-Jahren sehr verändert, sagt er, "schon weil es hier keine Heroinszene mehr gibt." Und so hört der Tourist auf seiner Tour mit Middelkoop weit mehr Verrucht-Verbotenes, als er sehen würde. Die Führung zeigt das inoffizielle Amsterdam - und ein verschwindendes.

Seine Erfahrungen aus der Warmoesstraat wollte Piet Middelkoop schon viel früher teilen: Bereits vor 30 Jahren begleitete er seinen Dienst mit seiner Videokamera, um die Aufnahmen an einen Fernsehsender zu verkaufen. Doch der Polizeichef hatte etwas dagegen. Middelkoop ist nicht nur ein aufmerksamer Beobachter des Stadtbildwandels, er bringt auch den Zwiespalt der Stadtoberen auf den Punkt: "Einerseits starten sie Programme, um neben den Prostituierten auch junge Designer in den Fenstern des Rotlichtviertels zu zeigen." Andererseits kämen die Touristen, weil sie das Viertel "bei einem unaufgeregten Spaziergang" erleben wollten.

Deshalb glaubt Middelkoop, dass das Rotlichtviertel noch lange nicht am Ende ist. "Es wäre ein zu großer finanzieller Verlust für die Stadt, alles dichtzumachen." Und selbst wenn sich das heiße Pflaster in den nächsten Jahren noch weiter abkühlen sollte - Piet Middelkoop wird sich an früher erinnern und Touristen die Fotos zeigen. Vielleicht irgendwann die von 2012, der guten alten Zeit, als es im Rotlichtbezirk noch etwas zu sehen gab.

Informationen

Anreise: Lufthansa fliegt viermal täglich ab/bis München nach Amsterdam ab 99 Euro, www.lh.de

Übernachtung: Hotel JL No76, Jan Luijkenstraat 76, 1071 CT Amsterdam, DZ ab 120 Euro, www.vondelhotels.com; Hotel The Exchange, Damrak 50, 1012 LL Amsterdam, DZ ab 110 Euro, www.exchangeamsterdam.com

Führungen: Kontakt zu Piet Middelkoop über seine Website www.bureauwarmoesstraat.nl

Weitere Auskünfte: www.holland.com

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Quelle:
SZ vom 29.08.2013/cag
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