Süddeutsche Zeitung

Tokio:Im Schein der roten Laterne

Entdeckungen in der grellen Glitzerwelt: Im Vergnügungsviertel Shinjuku sieht Tokio manchenorts noch so aus wie vor siebzig Jahren

Johannes Wächter

Die Kellnerin hat eine Gasflasche in den kleinen Kocher geklemmt, nun brennt ein Feuer auf dem Tisch. Blaue Flammen züngeln aus den Öffnungen des Kochgeräts und spiegeln sich in der Fensterscheibe, vermischen sich mit unzähligen Lichtpunkten, die dahinter flimmern.

Das Tsukiji-Tamatu-Restaurant liegt im 51. Stock eines Hochhauses und von hier oben betrachtet kann man leicht den Eindruck gewinnen, dass die Einwohner von Tokio heute nacht auf sämtliche Lichtschalter gedrückt haben, die sie erreichen konnten. Die Stadt glitzert und funkelt, bis zum Horizont und darüber hinaus.

Die Kellnerin setzt einen Topf mit Wasser auf die Gasflamme und bringt mehrere Platten mit Lauch, Chinakohl und Pilzen, einige Flaschen mit Würzsoßen, zwei Schalen mit Glasnudeln. Zum Schluss serviert sie das Fleisch: purpurrote Rindfleisch-Scheiben, hauchdünn geschnitten und von einem feinen Geflecht hell schimmernder Fett-Adern durchzogen.

Herr Kitagawa ist begeistert. Das sei zwar kein echtes Kobe-Rind, sagt er, so eine Delikatesse könnten sich nur die wenigsten leisten; doch auch dieses Fleisch sei von besonderer Güte, die edle Marmorierung habe der Züchter mit eigener Hand in den Leib seines Schlachtviehs geknetet.

Inzwischen kocht das Wasser. Mit seinen Stäbchen greift Herr Kitagawa, Angestellter eines Reise-Unternehmens, eine der Fleischscheiben und lässt sie in den Topf gleiten. Das Fleischstück treibt im sprudelnden Wasser wie ein Hemd im Waschkessel und ist schon nach wenigen Sekunden nicht mehr rot, sondern grau und damit verzehrfertig.

Herr Kitagawa zieht es wieder heraus und wirft stattdessen Pilze und Glasnudeln in den Topf. "Shabu Shabu" heißt dieses Gericht, der Name ist inspiriert von dem Geräusch, das früher beim Waschen entstand. Nun hat es sich zu einem der zahlreichen ausgefeilten Genussrituale entwickelt, die die japanische Küche prägen.

Zwischen zwei Gängen deutet Herr Kitagawa auf das gewaltige Hochhaus, dessen Zwillingstürme den Blick nach Südosten versperren. Das sei das Rathaus der Präfektur Tokio, 243 Meter hoch, in dem eine Armee von Beamten die Belange der Metropole regelt.

Die Stadtbezirke von Tokio gehen nahtlos in umliegende Großstädte wie Yokohama, Saitama und Chiba über; rechnet man alles zusammen, kommt man auf etwa 35 Millionen Einwohner; vielleicht auch schon 40 Millionen, wer wollte das nachzählen.

Zahlreiche Zentren gliedern den Großraum Tokio, doch wenn man einen Ort sucht, der sinnbildlich für dieses außergewöhnliche Ballungsgebiet steht, so kommt man schnell auf Shinjuku, jenes Viertel, das draußen vor dem Fenster des Restaurants funkelt. Halb Geschäfts-, halb Vergnügungsbezirk ist Shinjuku so etwas wie das kraftvoll pumpende Herz der Mega-Stadt.

Herr Kitagawa lässt ein neues Stück Fleisch in den Kochtopf gleiten und bleibt am Tisch zurück. Mit dem Expressaufzug geht es vom 51. Stock hinunter zur Erde. Das Shinjuku Sumitomo Building, im dem das Restaurant liegt, ist von weiteren Wolkenkratzern umgeben, in denen Banken und Großunternehmen residieren.

Ein kalter Wind bläst durch die leeren Straßen, dieser Teil von Shinjuku, das Geschäftsviertel, wird erst morgen früh wieder zum Leben erwachen. Aber es gibt ja noch den Vergnügungsbezirk.

Im Foyer des Keio Plaza Hotels - 47 Stockwerke, 1563 Zimmer - warten bereits Herr Sawasaki und Herr Yabe, der eine DJ, der andere Labelbetreiber, zwei alternde Hipster und Kenner des Nachtlebens von Shinjuku. "Wir zeigen japanische Underground-Kneipen", verspricht Herr Yabe und marschiert voran. Auf dem Kopf trägt er eine rote Skimütze, die in der Nacht leuchtet wie eine Fackel.

Erstes Anzeichen für die Veränderung des urbanen Klimas sind die neuen Lichtreize. Das Hochhausviertel wird einzig vom neonkalten Schein der Straßenlampen erhellt, nun beginnen bunte Leuchtreklamen, flackernd das ungemütliche Weißlicht zu überblenden.

An zwei großen Kaufhäusern vorbei geht es zum Bahnhof Shinjuku, weithin berüchtigt als verkehrsreichster der Welt: Mehr als 3,3 Millionen Menschen steigen hier jeden Tag ein, aus oder um; ein Dutzend städtische und private Bahnlinien kreuzen sich in einem Schienengewirr, das fünf Etagen unter die Erde reicht.

Auch abends hasten noch erstaunlich viele Menschen durch die zahlreichen Tunnel, Quergänge und Einkaufspassagen dieses Labyrinths. Größere Gruppen von Büroangestellten in Schlips und Kragen sind zu sehen, skurril aufgestylte Teenager mit gefärbten Haaren, verliebte Pärchen - sie alle streben ins östlich vom Bahnhof gelegene Ausgehviertel.

Herr Yabe und Herr Sawasaki tauchen in den Menschenstrom ein und erreichen bald den großen Boulevard von Shinjuku. Yasukuni-dori ist wahrscheinlich der bekannteste Straßenzug Tokios und ein ikonographisches Zentrum der Stadt. Die Fassaden der Häuser sind nahezu komplett mit blinkenden Leuchtreklamen und bunten Videowänden bedeckt, zusammen mit den Menschenmassen und dem dichten Verkehr ergibt sich ein unverwechselbares Sinnbild für Tokios urbane Intensität.

Herrn Yabes rote Skimütze steuert mitten durch das Gewühl. Links geht es ins Rotlichtviertel Kabukicho, zahlreiche Handzettelverteiler versuchen, Kunden in die dortigen Massagesalons, Stripbars, Bordelle und Stundenhotels zu locken.

Schriller Japan-Pop, Videospiel-Geballer und das Geklacker der metallenen Pachinko-Kugeln dröhnt aus den großen Spielhallen heraus, die den Gehsteig säumen.

Unweit der großen Straße, im Schatten der Vergnügungspaläste, liegt ein Distrikt, der aus einer wirren Ansammlung von kleinen Häuschen besteht, durchzogen von fünf Quergassen.

Die Modernität hat plötzlich einem rustikalen, leicht schmuddeligen Flair Platz gemacht. Die Menschenmassen sind verschwunden und es blinken auch keine bunten Lichter mehr. Das ist Golden Gai, in der Nachkriegszeit ein Amüsierbezirk für US-Soldaten, nun ein Szeneviertel für Hipster und Nachtschwärmer.

Über zweihundert winzige Bars sind in die windschiefen ehemaligen Bordelle eingezogen, in kaum eine passen mehr als zehn Leute hinein. In der Bar "Plastic Model" hat der Besitzer Teile seiner Plattensammlung in einem Fach auf der Theke platziert, neben einer kleinen Godzilla-Figur zum Aufziehen.

Zur Begrüßung des deutschen Gastes zieht er eine Kraftwerk-Platte hervor, danach legt er "Du riechst so gut" von Rammstein auf. In der Ecke blinkt ein blauer Monitor mit einem altertümlichen Videospiel. Herr Sawasaki und Herr Yabe, die schon oft in München waren, reden in gebrochenem Englisch über das beste Weißbier und den japanischen Meistertrainer Guido Buchwald.

Während eben, im Hochhaus, der Blick auf majestätische Weise zum Horizont schweifen konnte, ist der Stadtraum nun auf die Größe einer Schuhschachtel zusammengeschnurrt. Die Enge steigert sich noch, als weitere Menschen in die mit acht Gästen eigentlich schon voll besetzte Bar drängen.

Herr Yabe und Herr Sawasaki lassen jedoch keinen Zweifel daran, dass das völlig normal ist und niemanden stört. Die Raumnot in Tokio hat nicht nur zu kuriosen Nutzungsideen wie den Fahrschulen geführt, die sich auf Hausdächern befinden, oder den extraschmalen "Bleistifthäusern".

Sie hat auch den persönlichen Raumbedarf der Hauptstadtbewohner drastisch reduziert. Und so stört sich niemand in der Bar "Plastic Model" daran, dass die Toilette in einer Art Wandschrank untergebracht ist, in dem nicht einmal ein japanischer Grundschüler stehen könnte.

Nach zwei Flaschen Sapporo-Bier steht ein Ortswechsel an. Erneut weist die rote Mütze von Herrn Yabe den Weg durch das Getümmel von Shinjuku. Er hat Hunger bekommen und steuert eine Fußgänger-Gasse namens Omoido-Yokocho an.

Herr Sawasaki versucht sich an der schwierigen Aufgabe, diesen Namen zu erklären, der eigentlich etwas unverfängliches bedeutet, aufgrund eines komplizierten Wortspiels aber auch als "Pinkel-Gasse" verstanden werden kann. "Altes Tokio", resümiert Herr Sawasaki.

In der Tat hat diese schmale Passage, wie schon das Kneipenviertel Golden Gai, nichts von der Modernität des bunt blinkenden Vergnügungsbezirks, der sie umgibt. Kleine Imbiss-Restaurants säumen beide Seiten der Gasse, auf offenen Grills braten streng blickende Köche mit weißen Stirnbändern Fleisch- und Gemüsespießchen, Yakitori genannt, die direkt an der Theke verzehrt werden.

Seit Generationen habe sich hier nicht viel verändert, sagt Herr Sawasaki, und tatsächlich verströmt die gesamte Gasse - die Holzkohlegrills, das krude gezimmerte Mobiliar, die roten Papierlaternen mit japanischen Schriftzeichen - eher die Atmosphäre der Vorkriegszeit als der Computer-Ära.

"Japan is the country where the past meets the future", hieß einmal ein Slogan der japanischen Tourismusbehörde. Zwar dürften die Beamten bei der Vergangenheit an Samurai-Burgen oder den Kaiserpalast gedacht haben, doch beschreibt ihr Spruch ebenso treffend, wie sich ein urtümlicher Ort wie die "Pinkel-Gasse" ins moderne Shinjuku einfügt.

Herr Yabe steuert ein Imbisslokal an, so winzig, dass die Garderobe in Regalen unter der Decke verstaut werden muss. Der Barmann schenkt heißen Sake aus und schaltet ein kleines, verkrustetes Elektropfännchen ein, das auf der Theke installiert ist.

Wie im teuren "Shabu Shabu"-Restaurant bereitet der Gast auch hier sein Essen selbst zu; allerdings gibt es kein marmoriertes Edel-Rind, sondern Kalbsmagen, Zunge, Bauch und andere billige Teile.

Der Moloch breitet sich aus

Im kommenden Jahr solle die "Pinkel-Gasse" abgerissen werden, um Platz für ein neues Kaufhaus zu machen, erzählt Herr Sawasaki. Er scheint entschlossen, diesen Ort so lange wie möglich zu genießen und beißt mit Gusto in ein Stück Kalbsmagen. Zum Abschluss des Mahls serviert der Barmann zwei Dutzend Knoblauchzehen, die ebenfalls im Pfännchen geschmort werden.

Überraschend kommen drei Bekannte von Herrn Sawasaki und Herrn Yabe herein. Da die Pfännchen-Bar nun zu klein ist, zieht man einige Türen weiter und findet schließlich Platz in einem chinesischen Imbiss, wo eine wackelige Stiege zu einem Oberstübchen mit dreieckigem Grundriss emporführt. Der Kühlschrank steht in der Ecke und weil der Raum jetzt voll ist, kommt die Kellnerin nicht mehr an ihn heran.

Einer der Neuankömmlige - er trägt einen Mod-Parka und eine dünne Krawatte - stellt sich als Mönch aus dem Tsukiji Hongan-ji heraus, einem buddhistischen Tempel nahe dem großen Tokioter Fischmarkt. Oder ist er nur ein Angestellter des Tempels? "Ich bete nicht, ich benutze Microsoft Office." Er legt die Hände vor der Brust zusammen und verneigt sich würdevoll. "Dank sei dir, Bill Gates."

Der Mönch und seine Freunde haben Bier und Sake für alle bestellt. Schnell entwickelt sich jene fast schon rowdyhaft ausgelassene Stimmung, für die Japaner beim Ausgehen berüchtigt sind. Alle reden durcheinander und lachen schallend durch den Raum, auch die Leute am Nebentisch mischen sich ein, es geht um Japan und Deutschland, um Buddha und das Oktoberfest, und der Mönch erzählt mit verklärtem Blick, wie er als Junge aufbleiben durfte, um mitten in der Nacht das erste WM-Endspiel zwischen Deutschland und Argentinien zu gucken. Er weiß sogar noch die Torschützen: "Rummenigge, Völler".

Draußen auf der "Pinkel-Gasse" scheint ähnliches vor sich zu gehen, die Stimmen, die hoch ins Oberstübchen dringen, werden lauter, das Gebrüll wird wilder.

Als Herrn Yabes Gesicht kurz davor ist, die Farbe seiner Mütze anzunehmen, blickt er auf die Uhr und gibt das Signal zum Aufbruch. Alle haben noch eine lange Fahrt vor sich, und gegen ein Uhr nachts fährt in Shinjuku der letzte Zug ab.

Aus den verschiedenen Ecken des Vergnügungsbezirks strömen die Menschen zurück zum Bahnhof, einige sichtlich mitgenommen von den Ereignissen der zurückliegenden Stunden, zwei junge Männer sind so derangiert, dass sie gestützt werden müssen.

Herr Yabe, Herr Sawasaki und die anderen verabschieden sich und verschwinden in einem der zahlreichen Eingänge des Bahnhofs. Die Straßen leeren sich langsam, doch die bunten Leuchtreklamen blinken und funkeln weiter.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.356039
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 18.10.2007
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.