Tokio:Die Metropole des Wahnsinns

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Fahrschulen auf Dächern, Schreine über Tunneln, Kinos in Brückenpfeilern - Japans Hauptstadt ist so eng, dass Raum kreativ genutzt werden muss.

Henrik Bork

Ist Tokio verrückt? Natürlich ist schon diese Frage eine Frechheit. Und eine unzulässige Vermenschlichung, wie Spielverderber sofort anmerken werden. Eine Stadt kann schließlich nicht verrückt sein, höchstens die Menschen, die sie bewohnen.

Wie aber soll man eine Stadt sonst nennen, die so überbevölkert und eng ist, dass Fahrschüler das Autofahren auf Hausdächern üben müssen; dass Priester nachts im Bett vibrieren, weil ihr Shinto-Schrein auf einem Schnellzug-Tunnel steht? Eine Stadt, in der die Toten in ihren Gräbern rotieren müssen, in der neue Häuser gebaut werden, die 60 Zentimeter breit sind, wo die Obdachlosen abends Schlange stehen, um einen Schlafplatz zu finden, und in der ständig in so wütendem Tempo abgerissen, neu gebaut und wieder abgerissen wird, dass sich selbst Einheimische regelmäßig verlaufen.

Fest steht, dass freier Raum eine Rarität ist in Tokio, noch seltener und kostbarer als giftiger Fugu-Fisch. Es ist eng in Tokio. Das Land ist teuer. Das führt zu gewagten Konstruktionen, die überall sonst auf der Welt zweifellos als verrückt bezeichnet würden, hier aber kaum eine Augenbraue zucken lassen. Eine Fahrschule auf dem Dach eines Supermarkts, zum Beispiel. "Na und?", fragt Okinari Nagano, Manager der "Kanamachi-Fahrschule" im Norden Tokios. Er versteht nicht, was daran so aufregend sein soll.

Fahrstunden mit Ausblick

Vielmehr führt er Besucher voller Stolz auf das geteerte Flachdach des "Ito-Yokado"-Supermarktes. In luftiger Höhe, acht, neun Meter über der Erde, hat die Fahrschule hier ihren Übungsplatz gebaut. Weiße Striche auf dem Teer imitieren Straßen, Zebrastreifen und Parkplätze. 35 blaue Mazdas fahren auf dem Dach im Kreis herum, jeweils von einem Fahrschüler und einem Fahrlehrer gelenkt. Es gibt den Nachbau einer Kreuzung, komplett mit Ampel, einen falschen Bahnübergang, jede Menge Kurven und eine Rampe, um das Anfahren am Berg zu üben.

"Als ich eben geradeaus gefahren bin, konnte ich genau in die Fenster im siebten Stock des Apartment-Gebäudes gegenüber sehen", sagt Fahrschülerin Yuki Hasegawa. "Für einen Moment dachte ich, dass ich den Leuten ins Wohnzimmer fahre." Trotzdem übt Frau Hasegawa gerne hier. Der Supermarkt liegt nahe am Bahnhof, ist also für Leute wie sie, die noch keinen Führerschein haben, einfach zu erreichen.

Aus diesem Grund wird das Modell "Fahrschule auf dem Dach", das hier in Kanamachi bereits seit 1966 in Betrieb ist, auch heute noch fleißig kopiert. "Man hat unser Modell in Fukuoka in Südjapan abgekupfert und erst letztes Jahr wieder in Hokkaido im Norden", sagt Nagano, der Manager.

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