Süddeutsche Zeitung

Tirol:Geschafft

42 Kilometer auf Skatingskiern, vom Wettkampfrausch bis zum qualvollen Weitermachen bei den Anstiegen: Wie unsere Autorin beim Ganghofer-Langlaufmarathon Letzte wurde, aber trotzdem einen großen Sieg davontrug.

Von Heidi Hecht

Das Kribbeln im Bauch, die weichen Knie, die Ungewissheit, ein Gefühl zwischen Grandiosität und Untergang: Ich liebe diese Atmosphäre am Start. Ein Jahr Training liegt hinter mir. Nun stehe ich mitten im Gewusel am Start des 48. Ludwig-Ganghofer-Laufs durchs Leutaschtal. 500 Läufer sind heute in der Skating-Technik dran. Ich bin für die Marathondistanz, also 42 Kilometer, angemeldet. Mein Knie macht seit Monaten Probleme. Die Motivation ist aber hoch. "Dabeisein ist alles", so sagt man doch. Aber stimmt das?

Der Startschuss - eine Erlösung. Zu den Klängen von "Highway to Hell" von AC/DC werden wir auf die Strecke geschickt. Ich singe laut mit, überfahre im Doppelstockschub die Startlinie und rechne damit, jeden Moment abzuheben, so berauscht bin ich. Lange wird diese Leichtigkeit wohl nicht andauern. Dies soll mein dritter und letzter Skatingmarathon sein. Danach werde ich Genussskaterin, schließlich bin ich 73. Meine unvollkommene Technik habe ich mir großteils selbst und über Youtube beigebracht. Dass harte Arbeit vor mir liegt, merke ich bereits auf der ersten Schleife vom Start in Weidach über Gasse und wieder zurück nach Weidach, die zweimal durchlaufen werden muss. Zu Beginn der zweiten Runde bin ich schon Letzte, vom Hauptfeld ist nichts mehr zu sehen, auch alle anderen sind enteilt. Ganz allein bin ich aber nicht, Anne Herten und Reinhard Gasser vom Skiclub Leutasch, dem Ausrichter des Rennens, sind plötzlich an meiner Seite, abgestellt als Nachhut. Nun zwinge ich meinen Kümmerern einen langen Tag auf, das ist mir unangenehm. Fifty-fifty - so schätze ich meine Chance ein, ins Ziel zu kommen. Als Trost für meine Begleiter sage ich was von "Wunschzeit vier Stunden". Daran glaube ich aber selber nicht.

"Ab hier geht's bergab", ermuntert mich Reinhard, als wir zum zweiten Mal an der Abzweigung nach Ahrn sind. Es ist ganz still, nur der kalte Schnee knirscht unter den Skiern. Dass außer uns in diesem Tal auch noch Hunderte andere Läufer unterwegs sind, kann ich mir gar nicht vorstellen. Auf einmal prescht wie aus dem Nichts auf der Gegenspur die Spitzengruppe in mein Blickfeld, Halbprofis in glänzender Rennhaut. "Hopp, hopp, hopp", höre ich mich die Athleten anfeuern. Ich bin stolz, dazuzugehören, wenn auch nur peripher. Die Lücken zwischen den Läufern auf der Gegenspur werden immer größer - ein Zeichen, dass auch die Langsamen schon auf dem Weg nach oben sind. Als Letzte fahre ich immer noch bergab in Richtung Wendepunkt und muss dann auch noch das Tal hinauffahren, und zwar so, dass ich die restlichen acht Kilometer bis ins Ziel schaffe. "Ich schaffe das", sage ich zu mir und stelle mir vor, wie ich unter großem Jubel durchs Ziel laufe. "Senioren trainieren für Olympia", scherze ich am Verpflegungsstand an der Schmiede, und Reinhard erinnert daran, dass dies "ja schließlich ein Volkslauf ist". Nett von ihm.

Kohlehydrate, die von Menschen überreicht werden, helfen besser als jedes Powergel

Gut gestärkt mache ich mich an meinen Angstabschnitt. Hier muss ich raufkommen, ohne mich zu verausgaben, sonst wird es nichts. Das Steigen im Wald zieht sich. Immerhin habe ich den Windschatten von Reinhard, dazu die unerschütterliche Solidarität von Anne. Komisch, dass plötzlich Langläufer ohne Startnummer auf der Strecke sind. Wissen die denn nicht, dass hier ein Wettkampf läuft? Der Schnee ist jetzt richtig nass, ich sinke bei jedem Abdruck tief ein, aber auf wundersame Weise gleiten meine Skier dennoch. Der Servicemann vom "Rückenwind"-Sportgeschäft in Seefeld muss mir da ein paar zusätzliche Gänge eingebügelt haben.

Immer mehr Sonntagslangläufer sind unterwegs. Fokussiert bleiben! Heute will ich unbedingt ins Ziel kommen. Jetzt muss ich - demütigend - am Start in Weidach vorbei, wo auch das Ziel ist: Vorn begrüßt der Stadionsprecher enthusiastisch jeden Finisher, ich aber muss hinten am Ziel vorbei bis hinauf ins Skatingzentrum und erst dann wieder zurück nach Weidach. An allen Verpflegungspunkten warten fröhliche Helfer auf mich. Ich lerne: Kohlenhydrate, die von Menschen überreicht werden, helfen besser als jedes Powergel. Trotzdem muss ich mich im Skatingzentrum die zwei winzigen Anstiege hinaufquälen. Endlich stehe ich an dem Punkt, an dem ich weiß: Das wird was heute. Alle Pein ist vergessen. Wie schön, dass ich hier nicht allein stehe, sondern mit Anne und Reinhard. Allein wäre es viel härter gewesen.

Bei meiner Abfahrt rollt der letzte Zeitnehmer gerade seine Kabel auf. Feierabend. Die Siegerehrung ist längst vorbei, einige der Athleten laufen sich nun aus - ich höre von ihnen "Bravo! Du packst das". Reinhard meldet der Rennleitung, dass wir bald kommen. Jetzt sammeln sie sogar schon die Begrenzungsstangen an der Strecke ein. Als mir in einer steilen Kurve kurz vor dem Ziel plötzlich Menschen im Liegestuhl zujubeln: "Heidi, Heidi!", komme ich mir vor wie "Eddie the Eagle", der Skispringer, der mehr vom Schanzentisch fiel, als dass er sprang.

Nach 4:18 Stunden trudeln wir zu dritt im menschenleeren Zielraum ein. Helfer bauen letzte Biertische ab, kaum jemand schaut hoch. "Wahrscheinlich guckt wieder kein Schwein", die Zeichnung von F.K. Waechter fällt mir ein. Der Mann von der Zeitnahme stürmt auf mich zu und nestelt den Transponder aus meiner Startnummer. Mit einem offiziellen Foto wird es nichts mehr. Die Fotografen sind schon weg.

Sei's drum. Ich habe es geschafft! Ich freue mich jetzt auf ein ganz normales Leben, mit Mehlspeisen und ohne Anreise in kalten Zügen zu langen Trainingsfahrten in noch kälteren Tälern; und auch auf das Gesicht meines Orthopäden beim nächsten Besuch. Daheim schaue ich mir im Netz mein Diplom an. "Erster Platz in der Alterskategorie", steht da. Auch wenn es keine anderen Teilnehmerinnen in dieser Kategorie gab: Fühlt sich gleich viel besser an als: Letzte.

Kommender Ganghoferlauf: 9./10.März, www.seefeld.com/ganghoferlauf

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Quelle:
SZ vom 28.02.2019
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