Tierschutz:Ruf nach Wildnis

Vor 101 Jahren wurde der Schweizerische Nationalpark gegründet, den ein 80 Kilometer langes Wegenetz durchzieht. Ein Vorbild für alpinen Naturschutz.

Von Michael Grimm

Zehn Jahre, nachdem der letzte Bär auf dem Gebiet des heutigen Schweizerischen Nationalparks erlegt worden war, besann man sich auf den Schutz der Natur. Ratsmitglied Walter Bissegger fragte im Parlament: "Wollen wir für Tiere und Pflanzen eine Freistätte schaffen, aus der jeder menschliche Einfluss soweit immer möglich ausgeschlossen ist, ein Revier, in dem auf 100 Jahre jede wirtschaftliche Benutzung, Holzbetrieb, Weidegang, Jagd aufhört, in dem keine Axt und kein Schuss mehr erklingt, kein Haustier mehr weiden darf?" Was für manchen wie eine Drohung geklungen haben muss, fand die Zustimmung der Abgeordneten. Der Nationalrat beschloss, das Gebiet im Unterengadin zwischen der Ortschaft Zernez und dem Ofenpass unter strengen Schutz zu stellen. Am 1. August 1914 wurde der Schweizerische Nationalpark offiziell gegründet.

Hundert Jahre später steigt Parkwächter Reto Strimer den steilen Nadelwaldhang südlich von Zernez hinauf. Am Schild, das den Eingang in den ältesten Nationalpark der Alpen markiert, verharrt er andächtig. Das urzeitliche Krächzen eines Tannenhähers durchbricht die Stille, es ist das Wappentier des Parks. Strimer legt den Zeigefinger auf die Lippen. Seit 22 Jahren patrouilliert er durch das raue Naturidyll. So wie die Gletscher die umliegenden Hochtäler schliffen, haben die unzähligen Höhenmeter auch bei dem 54-Jährigen ihre Spuren hinterlassen. Der Meniskus spielt nicht mehr richtig mit. Doch der Ruf der Wildnis ist stärker als der Schmerz, so stark, dass er Strimers Leben grundlegend verändert hat. Den Job des Bauleiters hängte der Unterengadiner früh an den Nagel, "zu groß war die Sehnsucht, auch beruflich mehr mit der Natur zu tun zu haben". Die hat über die Zeit seine Sinne geschärft. "Dort drüben", sagt Strimer mit gedämpfter Stimme und leitet die Blicke mit ausgestrecktem Arm, "liegt der Platzhirsch und äst". Gut 200 Meter entfernt, am Rande der Baumgrenze, hat es sich ein Zwölfender zwischen den Latschenkiefern gemütlich gemacht. Durch den Feldstecher ist sein von der Abendsonne angestrahltes Geweih deutlich zu erkennen.

Doch vor Strimers Linse spielen sich nicht nur bukolische Szenen ab. Im Paradies hat auch die Sünde ihren Auftritt. Einmal, so erzählt der Parkwächter, habe er ein Ehepaar durch das Fernglas beobachtet, die Frau pflückte den streng geschützten, äußerst giftigen Eisenhut und verstaute die Blüten in einer Tasche. Nach einer höflichen Begrüßung fragte Strimer die Wanderer, ob sie mit den Regeln des Parks vertraut seien. Beide bejahten. "Trotzdem habe ich das Gefühl, dass Sie ein schlechtes Gewissen quält", sagte Strimer. Die beiden gaben es zu, die Versuchung kostete sie schließlich 150 Franken.

Der Schweizerische Nationalpark ist der Louvre unter den Naturparks. Seine Exponate sind vielleicht nicht ganz so spektakulär wie jene im Yellowstone-Nationalpark, dafür sind sie mindestens so gut geschützt wie die Mona Lisa. Bis in das späte 19. Jahrhundert wurde die Wildnis allerdings eher bekämpft als bestaunt. Wertschätzung erfuhr sie erst, als sie durchdrungen und gebändigt war und nur die höchsten Gipfel und Polkappen sich noch dem Lasso der Zivilisation entzogen. Inspiriert von der amerikanischen Naturschutzphilosophie John Muirs, stieg auch in Europa die Sehnsucht nach Wildnis.

Der Historiker Patrick Kupper von der ETH Zürich hat dem Nationalpark ein dokumentarisches Denkmal gesetzt. In seinem Buch "Wildnis schaffen" beschreibt er, wie sich der Nationalpark-Funke in der Schweiz unter anderem am Proteststurm gegen eine Bahn auf den Gipfel des Matterhorns entzündete. Dagegen wandten sich die Nationalpark-Pioniere um den Basler Naturforscher Paul Sarasin. Den drohenden "Matterhorn-Vandalismus" nahm Park-Mitgründer Hermann Christ als Anlass für einen letzten Appell. In den Basler Nachrichten schrieb er 1908, dass in weniger als fünf Jahren "die schönsten Teile der Schweiz mit Hotelkasten und Bahnlinien getupft und gestrichen" seien, wenn nun nicht gehandelt würde. Auch wenn der Nationalpark schließlich nicht um das Matterhorn entstand, sondern in den abseits gelegenen Engadiner Dolomiten, so stand er doch für den Sieg der Vernunft über menschliche Maßlosigkeit.

Einer der Erben der Nationalparkgründer ist Heinrich Haller. Seit 19 Jahren leitet er als Direktor die Geschicke des Parks. An den hohen Idealen seiner Vorgänger hat sich auch unter seiner Ägide nichts geändert. "Im Gegensatz zu üblichen Nationalpark-Modellen hatte der Schweizerische Nationalpark von Anfang an den Charakter eines Freiluftlaboratoriums", sagt Haller. Wissenschaftler sollten die Natur bei ihrer Rückkehr zum Urzustand beobachten, frei von jeglichem menschlichen Einfluss. Im Unterschied zu anderen Parks ist hier das ganze Gebiet streng geschützte Zone. Besucher seien aber natürlich willkommen, sagt Haller, sofern sie die insgesamt 80 Kilometer langen markierten Wanderwege nicht verlassen. Der Anspruch des Totalschutzes war nicht immer einzuhalten und zwang die obersten Parkwächter zu Kompromissen. Ohne menschliches Dazutun zum Beispiel wäre der bereits ausgerottete Steinbock nicht zurückgekehrt. Raubtiere wie Bär, Luchs und Wolf sind bis heute nur seltene Gäste. In Abwesenheit ihrer natürlichen Feinde vermehrte sich das Rotwild so stark, dass es später außerhalb der Parkgrenzen massiv bejagt werden musste, um den in diesen Höhen ohnehin nur sehr langsam wachsenden Wald zu schützen. "Die Mensch-Natur-Beziehung musste im Laufe der Jahrzehnte immer wieder nachjustiert werden", sagt Haller.

Sein zirbenholzgetäfeltes Büro im Schloss Planta-Wildenberg am Ortsrand von Zernez liegt vis-à-vis des 2008 eröffneten Informationszentrums. Die Parkverwaltung im romantischen Schloss aus dem 13. Jahrhundert auf der einen, der moderne monolithische Bau auf der anderen Seite, dazwischen verläuft die Ofenpassstraße, die den Park durchschneidet. Ein Makel, gegen den die Naturschützer machtlos sind. Erst seit wenigen Jahren nimmt die Öffentlichkeit den Park als nationalen Schatz richtig wahr. "Der Nationalpark ist aus seinem Schlaf erwacht", sagt der Parkdirektor. Lange hatten die Parkbehörden ihre Idee vom Totalschutz verteidigt - gegen die Interessen von Wasserkraftwerksbetreibern, Jägern, Tourismus und teilweise auch gegen die lokale Bevölkerung. Was ursprünglich als Geschenk für die nachfolgenden Generationen gedacht war, erschien vielen schon bald als zu abstrakt.

Seit den 1990er-Jahren ist die Grenze zwischen Kultur und Natur weicher geworden. "Dank des massiven Ausbaus der Öffentlichkeitsarbeit ist es uns in den vergangenen Jahren gelungen, die Akzeptanz der Bevölkerung für den Nationalpark deutlich zu erhöhen", sagt Haller. Er hat die Dogmatiker abgelöst und die heiligen Hallen der Natur stärker für die Gesellschaft geöffnet. Und diese scheint es ihm zu danken. Das Parkgebiet wurde im Jahr 2000 erstmals seit 40 Jahren beträchtlich erweitert. Seitdem gehört die 3,6 Quadratkilometer große Seenplatte von Macun zum strengen Schutzgebiet. Im Jubiläumsjahr 2014 soll der Nationalpark endgültig die Herzen aller Zweifler erobern. Anlässlich der Feierlichkeiten zum 100-jährigen Bestehen wird es eine Wanderausstellung geben, die den Park in 16 großen Einkaufszentren vorstellt, ein Freilichttheaterstück über die Parkgründung und am 1. August die Geburtstagsparty, von der das Schweizer Fernsehen live berichten wird.

Als Reto Strimer im Abendlicht zur Cluozzahütte hinabsteigt, der einzigen bewirtschafteten Hütte im Park, sind die röhrenden Motorräder und Sportwagen fern. Das Val Cluozza liegt abgeschottet von mächtigen Bergriegeln parallel zum Spöltal und der Ofenpassstraße. Talaufwärts, Richtung Süden, ragen die mächtigen Felsengipfel von Piz dal Diavel und Piz Quattervals in den Himmel. Die Abgeschiedenheit des Val Cluozza erinnert an eine Szenerie aus einem Roman von Jules Verne. Kein Wunder, dass der Nationalpark genau hier seinen Ursprung fand. "Eine Freistätte für Tiere und Pflanzen schaffen, aus der jeder menschliche Einfluss ausgeschlossen ist" - die Worte Bisseggers haben über die Zeit an Radikalität verloren. Dafür hat der Mensch vielleicht an Einsicht gewonnen.

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