Tango in Buenos Aires:Die Nacht singt ihre alten Lieder

Discobrand, Staatsbankrott - Buenos Aires hat sich verändert, und der Tango wurde wieder einmal neu erfunden.

Carlos Widmann

Wenn das Bandoneon mit stoßendem Atem seine existenziellen Beschwerden vorträgt und die Geigen streng im Rhythmus dazu weinen, muss nicht unbedingt getanzt werden.

Tango in Buenos Aires; Reuters

Ein schwules Pärchen tanzt im Tango-Club "La Marshall".

(Foto: Foto: Reuters)

Je besser die Musiker, desto größer die Verführung, sich ihrer Melancholie und ihren Synkopen mit der Seele hinzugeben. Der Tango ist ein trauriger Gedanke, den man tanzen kann, lautet eine seiner frühen Definitionen. Die Betonung liegt auf "kann".

Bis vor fünf Monaten war im Zwölf-Millionen-Moloch Buenos Aires der Massentanz in der Mega-Disco von Mitternacht bis nach Sonnenaufgang das Stammesritual aller Jungen, eine gruppendynamische Leibesübung zu betäubendem Maschinenlärm.

Tango ohne Chance

Der nuancenreiche, auf tatsächliche Musik angewiesene Tango hatte dort keine Chance. Aber von den mehr als 200 Discos, die Ende vergangenen Jahres allein im Zentrum von Buenos Aires in Betrieb waren, sind erst 55 wieder geöffnet worden.

Eine Großstadt, die wie New York niemals schläft, bleibt Argentiniens Metropole weiterhin, aber das Nachtleben der Jungen und der Minderjährigen ist stark angeschlagen - seitdem Ende 2004 im "Cromagnon" 193 Menschen - die meisten davon Teenager - in giftigem Rauch erstickten oder bei lebendigem Leib verbrannten.

Ausbeutung des Herdentriebs

Die größte Tragödie in 470 Jahren Stadtgeschichte hat die Nächte von Buenos Aires verändert. Das "Cromagnon" (der Name erinnert an Höhlenbewohner) war nur eine von vielen Menschenfallen, die ihre Existenz der Ausbeutung des jugendlichen Herdentriebs verdanken.

Die Beachtung auch nur der mindesten Sicherheitsvorschrift indessen führt in diesem Gewerbe entweder zu Gewinneinbußen - oder zu Eintrittspreisen, die für viele Einheimische unerschwinglich sind.

Wer also das Nachtleben liebt, auf Rock und Hip-Hop aber verzichten kann, dem empfiehlt sich ein Szenenwechsel: Es lockt die Welt des Tango - in kleineren, feuerpolizeilich unproblematischen Lokalen.

Eine Bohéme wie aus anderen Zeiten blüht auf in Traditionsvierteln wie San Telmo, im Rotweindunst und im rauchigen Halbdunkel renovierter Spelunken; sie wird durchpulst von diesem mehr als hundert Jahre alten Rhythmus, der in längst versunkenen Bordellen entstanden ist.

"Das Reptil der Lupanare", schimpfte der Dichter Leopoldo Lugones den Tango, als der in Buenos Aires anfing, fast gesellschaftsfähig zu werden. Papst Pius X. hat die Ankunft des lasziven Zeitvertreibs in Europa mit einem Bannfluch begrüßt, und die Heeresleitungen in Wien und Berlin verboten ihren Offizieren, dem schwülen Vergnügen in Uniform nachzugehen.

Als der französische Satiriker Sacha Guitry erstmals die eng ineinander verhakten und verschlungenen Leiber eines argentinischen Tanzpaares beobachtete, gab er zu Protokoll: "Très charmant. Aber ginge das nicht besser horizontal?"

Reine Männersache

Diese Frage stellen sich manche im "La Marshall" wohl kurz vor dem Verlassen der Tanzfläche. In den fortschrittlichsten Tango-Schuppen müssen viele Paare jedoch mit einem völlig neuen Problem ringen: Wer führt wen?

Beim herkömmlichen gemischten Doppel (el tipo und la mina) gibt es nie den mindesten Zweifel. Ganz anders im alternativen Lokal, wenn Gay Tango Night angesagt ist: Reine Männersache, T-shirt gegen T-shirt, Jeans gegen Jeans, Bartstoppel an Bartstoppel.

Diese Innovation ist vor allem dem Tourismus zu danken. Seit der sexuellen "Entkorkung" - destape - der argentinischen Öffentlichkeit ab 1983, am Ende der Militärdiktatur, profiliert die Republik am Rio de la Plata sich als Hort der Liberalität, wenn nicht gar der Libertinage.

Buenos Aires wurde vor zwei Jahren die erste Hauptstadt Lateinamerikas, deren Standesämter gleichgeschlechtliche Paare absegnen. Schwule und Lesben aus aller Welt werden angezogen von der toleranten und entspannten Atmosphäre der argentinischen Metropole, die nun sogar Rio de Janeiro als liebstes Reiseziel der gay community übertrifft.

Paradies der Billigtouristen

"Pride Travel", ein auf Schwulen-Tourismus spezialisiertes Reisebüro, sieht als Grundlage für diesen Boom den argentinischen Staatsbankrott vom Dezember 2001 an.

Seitdem der Peso, bis dahin dem US-Dollar ebenbürtig, auf einmal für 34 Dollar-Cents zu haben war, wurde Argentinien zum Paradies für Billigtouristen. Ein perfekt zubereitetes "Mini-Steak" (an die 350 Gramm) kostet in einem guten Restaurant gerade mal elf Pesos - drei Euro.

Eine Flasche vom vorzüglichen Malbec- Rotwein ist im Supermarkt für 8,50 Pesos (2,30 Euro) zu haben. Eine Fahrt im weitläufigen U-Bahn-Netz von Buenos Aires kostet 0,15 Euro. Kinokarten kosten fast nichts, noch dazu laufen alle Filme im Original.

Und die junge Japanerin, die in San Telmo Tango-Unterricht nimmt, zahlt in einem pittoresken Hotel für die Übernachtung zwölf Euro.

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