Hara Kebira, Freitagmorgen in einer Cafébar. Kopf an Kopf sitzen sie, der eine ist bedeckt mit einer weißen Häkelkappe, der andere mit einer Kippa - zwei Alte genehmigen sich einen kleinen Schwarzen. Juden und Muslime leben hier, in einem Vorort von Djerbas Hauptstadt Houmt Souk, friedlich Seite an Seite. Männer schieben Handkarren vor sich her, Katzen pelzen sich in der Sonne, Frauen, kleine Kinder an der Hand, tätigen die letzten Einkäufe für das Sabbat-Mahl. Der Obsthändler schenkt der Besucherin ein paar Zuckeraprikosen. Sie sind freundlich hier, einfache Leute, die hinter blitzend weißen Häuserfassaden mit kunstvoll geschnitzten Türen wohnen.
Nur einer ist an diesem Freitagmorgen erst einmal nicht gut drauf. Nein, Französisch verstehe er schlecht, sagt er, hebt aber synchron zu den abwehrenden Händen immerhin seine braunen traurigen Augen. Großrabbiner Chaim Bittan sitzt zusammengekauert in seinem winzigen Laden zwischen ein paar Gebetbüchern, umgeben von einem Sammelsurium von Waren. Leben kann er davon ganz sicher nicht. Man wüsste nur zu gern von ihm, was es auf sich hat mit dieser Wallfahrt, die an diesem Freitagnachmittag im anderen Judenviertel beginnt, in Hara Sghira. Die Leute hier in Hara Kebira scheint diese kalt zu lassen. Zwischen den beiden Vierteln besteht seit alters eine Konkurrenz. In Hara Sghira, das sich längst zu einem properen muslimischen Viertel im maurischen Stil mit dem arabischen Namen Er Rhiad entwickelt hat, wohnen nur noch etwa 50 nicht eben betuchte jüdische Familien, angeblich allesamt Nachkommen der Kohanim, des Priestergeschlechts. Die Mehrzahl der Juden, viele von ihnen Goldschmiede, wohnt in Hara Kebira.
Bei Fragen zu seinem Sortiment kommt dem Rabbiner das Französische ziemlich flüssig über die Lippen. Und die Juden? In ganz Tunesien leben 1500 Juden, 1000 davon auf Djerba: "Alle sind fromm", sagt er und nickt, sodass sein mächtiger Bart die hölzerne Tischplatte pinselt. Zur Wallfahrt in al-Ghriba, der einst ältesten Synagoge Nordafrikas, da gehen sie natürlich auch hin. Eigentlich gibt es im Judentum seit der Zerstörung des Zweiten Tempels durch die Römer im Jahre 70 unserer Zeitrechnung keine Wallfahrt mehr. Denn der Tempel war ja das Ziel. Doch auf Djerba hat sich die Tradition erhalten. Der Wallfahrt liegt die Legende zugrunde, wonach sich ein Mädchen, genannt al Ghriba, die Fremde, fern des Ortes in einem Haus niederließ. Dieses brannte ab. Ihr Körper jedoch blieb unversehrt. Sie galt deshalb als Heilige. An der Stelle ihres Hauses wurde die Al-Ghriba-Synagoge errichtet, ihr Leichnam liegt hier beerdigt und wird wie ein Reliquienschrein verehrt, obwohl das Judentum weder Heilige noch Reliquien kennt.
Für den Tourismus gibt es einen Masterplan
Heute ist die Wallfahrt auch ein willkommenes Kulturgut - zumindest für die neue Tourismus-Ministerin, die dazu angereist ist. Amel Karboul, 41 Jahre alt, ist eine außergewöhnliche Erscheinung - hochgebildet, äußerst redegewandt und selbstbewusst. Sie spricht sechs Sprachen fließend, dank ihres Maschinenbaustudiums in Karlsruhe auch Deutsch. Mit ihrem Mann und zwei Töchtern lebt sie in London, fliegt aber dauernd in ihr Heimatland, um bei wichtigen Ereignissen Präsenz zu zeigen. Für den Tourismus in Tunesien hat sie einen Masterplan auf der Grundlage einer Erhebung durch die Unternehmensberatung Roland Berger erstellt: weg vom Massen-Strand-Tourismus, hin zum lokal verankerten Qualitätstourismus. Amel Karboul rühmt die postrevolutionäre Verfassung, in der nicht nur die Gleichberechtigung der Frau festgeschrieben ist, sondern auch das Recht auf Kultur. Und zur Kultur des Landes gehören die Juden, von denen die Ministerin gerne möglichst viele all jener wieder zurück sähe, die Tunesien einst verlassen haben.
Es sind immer noch gut neun Stunden bis zum Sabbat-Beginn. Um die Al-Ghriba-Synagoge, angeblich erbaut auf Steinen, die Flüchtlinge nach der Zerstörung des Ersten Tempels durch Nebukadnezar gerettet hatten, heizt sich Feststimmung auf. Statt in der alten Synagoge drängen sich Männer und Frauen in einem Neubau an selber Stelle aus dem 19. Jahrhundert. Es sind gar nicht so viele, die sich hier versammeln - und zwar offenbar nur, um sich gegenseitig per Handy abzulichten. Absurdes Theater in eine Kulisse aus Kerzenlicht, Weihrauch, Alkoholdunst, den lauten Ansagen des Vorbeters und dem ununterbrochenen Foto-Klickklick, angereichert mit penetrantem Schwefelgeruch.
Der rührt aus einer engen Höhle, in die junge Frauen einzeln nacheinander kriechen, um gekochte Eier abzulegen und damit um Fruchtbarkeit zu bitten. In einer Ecke sitzt ein frommer Zecher. Nicht weit von ihm steht verhüllt die Menora, das Herzstück der Wallfahrt. Sie ist kein siebenarmiger Leuchter, sondern eine silberne, reich ziselierte, von Kerzen erleuchtete Pyramide. Zwischen die Ornamente sind die Namen der zwölf Stämme Israels wie auch diejenigen zweier für die sephardischen Juden bedeutender Rabbinen eingraviert. Deren Todestag fällt auf den Tag der Wallfahrt, den jüdischen Halbfeiertag Lag BaOmer, der an den Bar-Kochba-Aufstand der Juden gegen die Römer erinnert.