Der Bär ist los, das gilt für die Wälder, aber noch viel mehr für die Köpfe der Menschen zwischen Bayern und dem Trentino. Besonders groß ist das wilde Tier derzeit in den Köpfen der Bewohner einer kleinen italienischen Provinz, die geografisch nahe am Trentino, mentalitätsmäßig aber näher an Bayern liegt. Dort verbringt nicht nur der Bayer, sondern auch die Hessin und der Schwabe sehr gerne seinen/ihren Urlaub, weil die Knödel meist gut, die Berge meist spektakulär und die Menschen meist freundlich sind. Die Rede ist natürlich von Südtirol.
Hier hat man gerade ein Problem, das größer ist als jeder Bär, der derzeit vom Trentino aus Streifzüge in die nördliche Nachbarprovinz unternimmt: Dabei handelt sich um ein Gerücht. Dieses Gerücht, von dem die Regionalzeitungen berichten, geht so: Das deutsche Auswärtige Amt prüfe derzeit, ob man wegen des tödlichen Bärenangriffs für Südtirol, das ja zusammen mit dem Trentino eine Region bildet, eine Reisewarnung erlassen sollte.
Soweit rekonstruierbar, hat das Gerücht ein Bozner Rechtsanwalt in die Öffentlichkeit getragen, der gleichzeitig als deutscher Honorarkonsul für die Region Trentino-Südtirol amtiert. Einem lokalen Fernsehsender hat er laut Zeitungsberichten gesagt, er habe eine diesbezügliche Anfrage aus Berlin erhalten und sogleich Informationen ans Generalkonsulat in Mailand geschickt.
"Alles andere muss dem untergeordnet werden."
Reisewarnung! Da schrillen die Alarmglocken im Tourismusland Südtirol zehn Mal lauter als das Festtagsgeläut am Bozner Dom. Zuletzt litt man unter einer deutschen Reisewarnung, als die Corona-Zahlen südlich des Brenners in immer neue Höhen wuchsen. Die Hotels und Wellnessbereiche blieben leer. Um Derartiges zu verhindern, melden sich nun Berufene und Unberufene lautstark zu Wort. Der für Tourismus zuständige Landesrat beteuert, er habe mit Berlin Kontakt aufgenommen, um eine "Überreaktion" zu verhindern und den naturfernen Beamten mitzuteilen, dass man derzeit von genau drei Bären wisse, die sich im Land befänden, allesamt unauffällige Gesellen. Auf eine Anfrage der SZ heißt es beim Auswärtigen Amt, man arbeite nicht an einer Reisewarnung für Trentino und Südtirol. Nichtsdestotrotz schlug der oberste Tourismuswerber martialische Töne an: "Wir müssen garantieren können, dass alle die Natur als sicheres Umfeld erleben können. Alles andere muss dem untergeordnet werden."
Dabei könnte man es auch von der anderen Seite betrachten: Südtirol, das mit jährlich 34 Millionen Übernachtungen doppelt so viel Tourismus wie das gleich große Trentino hat und unter Verkehrsbelastung, steigenden Preisen sowie punktueller Überfüllung leidet, wäre mit einer Bären-Reisewarnung auf einen Schlag den ganzen Overtourism los.
Südtirol:Zu Tode geliebt?
Die Dolomiten, das Essen, die Hotels! Südtirol ist bei Urlaubern beliebt. So beliebt, dass es vielen Einheimischen nun reicht.
Am Pragser Wildsee, der im Hochsommer von Tausenden Autos angesteuert wird, würde man plötzlich wieder die Vögel zwitschern hören, und auf den Dolomitenpässen wären die einzig vernehmbaren Rufe jene der einheimischen Kletterer: "Stand!" oder: "Seil frei". Und jene todesmutigen deutschen Touristen, die sich trotz der Bärenwarnung ins Land trauten, hätten die Gärten von Schloss Trauttmansdorff, die Wanderwege im Rosengarten und die Saunabänke in den Wellnessbereichen ganz für sich. Nicht zuletzt wären die Hoteliers ihr Mitarbeitermangel-Problem los.
Zu einer solchen Win-win-Situation wird es nun aber wohl nicht kommen. Denn, wie es mit Gerüchten so ist: Sie werden oft gestreut, um bestimmte Ziele zu verfolgen. Sind die erreicht (z. B. Bär tot), löst sich das Gerücht in klare Bergluft auf.