Südmähren in Tschechien:Das verwunschene Land

Lesezeit: 7 Min.

Wo Südmähren an Österreich grenzt, verlief einst der Eiserne Vorhang. Heute entdecken Touristen die unberührte Natur - und das, was die Einheimischen daraus gemacht haben.

Von Richard Fraunberger

Die Sonne brennt, die Luft flirrt. Keine Wolke steht am Himmel. Einsam schlängelt sich ein flickenartig geteertes, von Kirsch- und Pflaumenbäumen flankiertes Rumpelsträßchen durch eine sanft gewellte Hügellandschaft. Vorbei an Feldrainen, Mohn- und Sonnenblumenfeldern, an birkenbestandenen Fischteichen, Pestkapellen und verwitterten Grabsteinen, auf denen vor langer Zeit Väter und Mütter die Trauer um ihre im Ersten Weltkrieg gefallenen Söhne einmeißeln ließen. Hasen hoppeln über Äcker. Habichte kreisen. Leer das Land, weit die Horizonte.

Karel Pellech, 58 Jahre alt, das weiße Haar von der Hitze schweißverklebt, die Augen strahlend blau wie der wolkenlose Himmel über ihm, sitzt im Schatten eines Apfelbaums und nimmt einen Schluck aus der Wasserflasche. Pellech macht gerade Pause. Seit dem frühen Morgen pflügt er hinter Mašovice mit seinem Traktor einen Acker. Mašovice, das ist Pellechs Heimatdorf, die Bauernhäuser pastellfarben, geduckt und zu einer Häuserreihe aufgefädelt, manche mit alten Kastenfenstern, Schweifgiebel und hölzernen Hoftoren. Mašovice, das ist ein versunkener Ort in Südmähren, der Toskana Tschechiens, ein lieblicher, von Obstbäumen und Weinbergen gesäumter und von der Thaya durchflossener Landstrich.

1 / 3
(Foto: Richard Fraunberger)

Am Fluss ein Dickicht, in dem Schwarzstörche, Fischotter, Forellen und Bussarde leben...

2 / 3
(Foto: Richard Fraunberger)

...die Häuser pastellfarben: eine Bilderwelt, die an Joseph Roths Roman "Radetzkymarsch" erinnert.

3 / 3
(Foto: Richard Fraunberger)

Die Tschechen selbst gehen hier gern mit Sack und Pack auf Wanderschaft - auch entlang der ehemaligen Grenze.

Hier kommt kein Städtchen ohne Arkaden und Pawlatschen aus, Laubengänge in Innenhöfen, keine Anhöhe ohne Burg, kein Wald ohne Schloss. Eine Bilderwelt, die an Joseph Roths Roman "Radetzkymarsch" erinnert. Nichts inmitten dieser Schönheit erinnert an die Schrecken der jüngeren Vergangenheit.

"Dort, zwei Kilometer vor der Staatsgrenze zu Österreich entfernt, verlief der Zaun", sagt Karel Pellech und deutet auf einen Hügel. Er war Teil des Eisernen Vorhangs, ein Todesstreifen aus zwei elektrifizierten Zaunreihen mit Stolperdraht und Türmen und Kolonnenwegen, bewacht von einer Heerschar Grenzsoldaten.

Zivilisten, Soldaten, gut tausend Menschen starben an Tschechiens Grenzzaun. Pellech kennt ihn gut. Er hat ihn zigmal passiert. Als Maschinist der landwirtschaftlichen Genossenschaft arbeitete er oft in der Verbotszone, dem Niemandsland zwischen Todesstreifen und Staatsgrenze. "Ich hätte fliehen können. Ich tat es nicht. Ich war zufrieden mit meinem Leben", sagt Pellech. Von Zäunen abgeriegelt und an den Rand gedrückt, fiel Pellechs Heimat für Jahrzehnte in einen Winterschlaf.

"Die Menschen an der Thaya lebten, als läge jenseits des Flusses das Ende der Welt", sagt er. 1989 fiel der Eiserne Vorhang und die Grenzanlage wurde abmontiert. Geblieben ist eine Gedenkstätte bei Čižov, ein Splitter des Eisernen Vorhangs, 300 Meter Stacheldraht, Wachturm, pyramidenförmige Betonsperren, heute ein beliebtes Ausflugsziel im Thayaland.

Vor allem aber geblieben ist ein grünes Band, das sich vom Norden Tschechiens bis in den Süden zieht, ein mehr als 50 Jahre sich nahezu selbst überlassenes Stück Natur. Die ehemalige Verbotszone, die nur Grenzsoldaten und Arbeiter wie Pellech betreten durften, ist heute Tschechiens kleinster Nationalpark Podyjí. Er erstreckt sich über 40 Kilometer von Znojmo bis nach Vranov nad Dyjí und ist ein wahrer Dschungel aus Eichen, Hain- und Rotbuchen, hineingekrallt in felsige Steilhänge. Diese stürzen hinab in ein enges, tief eingeschnittenes Tal, durch das sich die Thaya, rauschend und kristallklar, entlang der Grenze zu Österreich schlängelt.

Der Nationalpark, von einem grenzüberschreitenden Netz aus Fahrrad- und Wanderwegen durchzogen, erlebt gerade eine Blüte. Zu Fuß, mit dem Fahrrad, auf dem Tretroller - die Tschechen entdecken wieder, was lange Zeit unzugänglich war. Podyjí ist das wiederbelebte Herz des Thayalands.

Tagelang gehen die Tschechen auf Wanderschaft und schlafen unter freiem Himmel

Auf Hohl- und einstigen Kolonnenwegen geht es hinab in den Wald. Laub knirscht unter den Rädern, Äste knacken. Längst sind die im Wald geschlagenen Schneisen für den Grenzzaun zugewachsen. Alles leuchtet, strahlt in allen Grüntönen, Blätter, Nadeln, Farne, bemooste Steinblöcke, ein lichtschluckendes Dickicht, in dem, zu Wasser und zu Land, Schwarzstörche und Smaragdeidechsen, Fischotter, Forellen und Bussarde leben.

Mit jedem Meter, dem man sich der Thaya nähert, weicht die drückende Hitze einer frischen Kühle. Wasser rauscht. Schmetterlinge flattern. Plötzlich Kinderschreie. Zitternd stehen zwei Jungs bis zum Bauch im Fluss. Acht Kinder und vier Väter picknicken am Ufer der Thaya. Seit drei Tagen sind sie auf Čundr, wie die Tschechen sagen, auf Wanderschaft, streunen wie Tramps quer durch den Nationalpark, durch Hangwälder, über Heiden, Steinmeere, Felstürme und verwilderte Uferwiesen, biwakieren, wo es ihnen gefällt, im Rucksack Proviant, Schlafsack und Isomatte.

Eine tschechische Eigenart, eine Naturverbundenheit, die in der Wandervogel- und Pfadfinderbewegung der Zwanzigerjahre wurzelt und bis heute überdauert hat. Am ehesten aber begegnet man Mountainbikern. Jedes Wochenende schwingt sich die halbe Nation aufs Fahrrad und strampelt wie im Rausch über Berge und durch Wälder. Nahezu unbemerkt bleibt, was das Flusstal einst so bedeutend machte.

Fünfzig Meter abseits des Fahrradwegs steht man inmitten einer untergegangenen Welt. Nur noch die Überreste alter Wehre und Kanäle und die in Hänge getriebenen Keller, in denen Fledermäuse schlafen, erinnern daran, dass sich seit dem 17. Jahrhundert am Ufer der Thaya die Räder von neun Wassermühlen drehten. Sogar eine Bäckerei wurde betrieben. Auf eigens aus Stein gebauten Wegen transportierte man das Getreide mit Ochsenkarren zu den Mühlen. Selbst Bauern aus dem österreichischen Retz zuckelten ins sogenannte Neunmühlen, um ihr Getreide zu mahlen.

Mit dem technischen Umbruch kamen die Wasserräder zum Stehen. Aus einer Mühle entstand ein Papierwerk und aus der Grubermühle das Hotel Gruber, eine herrschaftliche, weltabgeschiedene Sommerfrische, die Gäste aus Brno und Wien anzog. "Und dann kamen die Kommunisten und zerstörten Neunmühlen", sagt Radek Pokorny.

Der 67-jährige Rentner steht am zerfallenen Papierwerk und lauert gerade einem Wiedehopf auf. Pokorny stammt aus Vranov nad Dyjí und beobachtet im Nationalpark häufig Vögel. "Die Mühlen wurden geschliffen, die Mühlbäche zugeschüttet und das Hotel Gruber, in dem Grenzsoldaten wohnten, abgerissen", sagt er. In der Verbotszone durften sich keine Versteckmöglichkeiten befinden. Weiden, Äcker, Wiesen und Obstbaumgärten verwilderten und Neunmühlen verschwand unter einem Dickicht aus Robinien.

Was hohe Funktionäre nicht davon abhielt, das Wochenende in Neunmühlen zu verbringen. "Die fingen Forellen und amüsierten sich, und unsereins wurde am Sperrzaun verhaftet", empört sich Pokorny. Neunmühlen war tiefes Sperrgebiet, der Fluss verbarrikadiert, und neben einer Hängebrücke stand ein Wachturm. Heute wachsen dort Bäume, und über die Hängebrücke wandern Besucher hinauf zum Šobes.

Fahrräder und Helme liegen im Gras. Ein Knäuel von Menschen steht an einem Weinstand und redet und nippt an Gläsern. Handys klingeln. Selfies werden geschossen, Weingläser hoch gehalten: "Na zdraví!", zum Wohl. Šobes, ein von Eichen umgebener Weinberg am Hang einer felsigen Landspitze im Mäander der Thaya, gleich gegenüber von Neunmühlen, ist der schönste Ort Mährens für eine Weinverkostung unter freiem Himmel.

Den ganzen Sommer über ist der Weinstand geöffnet. Auf elf Hektar werden inmitten des Nationalparks Welschriesling und Pinot gris angebaut. Mähren ist die bedeutendste Weinregion Tschechiens. 95 Prozent aller Weine werden südlich von Brno angebaut. Mähren lebt vom Wein. In Winzerdörfern und Weinkellern werden Weinproben angeboten. In Znojmo und Mikulov, alten, historischen Städten, finden die größten Weinfeste des Landes statt.

"Wein, Sonne, wir haben alles, nur keine vernünftige Regierung, sagt Petr Kovařík. Kovařík, 57, aus dem Banat stammender Tscheche, ist Teilzeit-Winzer und lebt in Šatov, dem ehemaligen Schattau, am Rande des Nationalparks. Mais- und Rübenfelder säumen das Dorf, vor allem aber ein Meer aus Weinstöcken. Auf 260 Hektar gedeihen Grüner Veltliner und Rheinriesling. "Die Anbaufläche war früher viermal so groß. Šatov war ein einziger Weingarten. Es war die größte Weingemeinde der Region", erzählt Kovařík begeistert. Früher, das heißt vor 1945, vor den Beneš-Dekreten.

Heimaturlaub aus Hysterie

Nach dem Krieg war der mehrheitlich von Deutschen bewohnte Ort ein Geisterdorf. Mit den Deutschen ging ein jahrhundertealtes Wissen verloren. Die neuen Bewohner, die die Prager Regierung aus dem ganzen Land und aus Gebieten der ehemaligen Donaumonarchie rekrutierte, mussten alles rund um den Weinbau von Grund auf erlernen. "Heute leben viele vom Wein und vom Tourismus." Das vergangene Jahr war ein Rekordjahr. "Wir hatten noch nie so viele Besucher", sagt Kovařík.

Was auch mit der Flüchtlingskrise zu tun hatte und den Anschlägen in Europa. Geradezu hysterisch berichtete die tschechische Presse über islamistische Terroristen und schürte ein Gefühl der Angst und Unsicherheit. Viele Tschechen verzichten deshalb auf den Urlaub im Ausland und bereisen die eigene Heimat.

Podyjí und die Winzerdörfer rund um die Stadt Znojmo profitieren davon. In den Winzerdörfern reihen sich Weinkeller zu Kellergassen, in Popice, Nový Šaldorf, Hnanice, Havraníky, Šatov, kleine, große, verfallene, restaurierte, geziegelte, aus Sandstein gebaute, das Gewölbe spitz- oder tonnenförmig. Manche von ihnen unterirdisch und mit Treppen, andere ebenerdig und in Hänge gegraben. Manche nur ein kleiner, feuchter Raum, andere, wie der Mährische Keller, ein kaltes, dunkles, 300 Jahre altes Labyrinth, in dem 1400 private Weinarchive in abschließbaren Boxen lagern und dessen Gänge sich bis zur acht Kilometer entfernten Grenze nach Österreich erstreckt haben sollen - bis das Militär sie nach dem Krieg sprengte, um Fluchtwege in den Westen zu versperren.

Aus Sandstein herausgekratzt und knallbunt bemalt: der schönste Weinkeller

An Wochenenden bieten Familienbetriebe Weinproben an. Vor Šatovs Weinkeller stehen Bänke und Tische. Die Kellergassen sind voll, überall parken Fahrräder. Flaschen werden entkorkt, Gläser geschwenkt. Jemand singt ein mährisches Lied.

(Foto: N/A)

Der Star unter den Weinkellern aber ist Malovaný Sklep, der Bemalte Keller, an einen Hang über Šatov gelegen und von außen so unscheinbar wie eine Kate. Eine Gruppe junger Frauen sitzt draußen vor dem Weinkeller und lacht und trinkt. Seit dem frühen Mittag sind sie unterwegs, fahren mit dem Fahrrad von Weinkeller zu Weinkeller. Abends geht es zurück nach Znojmo. Wer es nicht mehr auf den Sattel schafft, nimmt den Weinbus, einen neuerdings eigens eingerichteten Shuttlebus, der dreimal täglich von Znojmo durch die Winzerdörfer fährt, im Schlepptau ein großer Fahrradträger.

Eine steile Treppe führt hinab in den Bemalten Keller. Kein Wein lagert dort. Es gibt weder Tische noch Sitzbänke. In zwanzig Meter Tiefe, über fünf Räume verstreut, liegt das Wunderreich des Maximilian Appeltauer, Angestellter eines Winzerbetriebs, gestorben 1972. Er ist das Lebenswerk eines Mannes, der, angetrieben von einer mönchischen Hingabe ans Malen, sein Leben lieber unter der Erde verbrachte als über ihr. Aus Sandstein herausgekratzt und in knallbunten Farben bemalt, ist das Gewölbe gesäumt mit Trinksprüchen, Nixen, Zwergen, Schlössern, Gestalten aus tschechischen Sagen und Mythen und bukolischen Landschaften, darin Bauern, Mönche, Elche, eine modrige, halbdunkle, in 34 Jahren entstandene Märchenwelt, in die Appeltauer, wann immer er dem Alltag entfliehen konnte, abtauchte.

Als er ohne den linken Arm aus dem Krieg zurückkehrte, ging er, den Pinsel in der Rechten, an der Hutkrempe zwei aufgesteckte Kerzen, zurück ans Werk und erweiterte die Galerie um neue, zeitgemäße Motive, Grenzsoldaten, Traktoren, Kolchosen. Ein Gemälde musste Appeltauer allerdings schnell übermalen.

Es entstand auf Wunsch des Kellerbesitzers, als Adolf Hitler 1938 die Bunkeranlage bei Šatov besichtigte. Aus dem Führer mit zum Hitlergruß erhobenem Arm wurde ein schnurrbartloser Familienvater und aus seinem rechten Arm ein Kran - Symbol für den Fortschritt im neuen, sozialistischen Heimatland.

© SZ vom 29.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusGrenzregion
:Deutsch-tschechische Freundschaft

Drogenhandel, Hehlerbasare und Väter, die auf Hauptsache-billig-Trip gehen: Wie viele der alten Wild-Ost-Geschichten entsprechen einer Gegenwart? Unser Reporter forscht an der Grenze zwischen Sachsen und Tschechien.

Von Cornelius Pollmer

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: