Menschen sind nicht dafür gemacht, unter Wasser zu sein - sagt der Kopf. Renato Marchesan sagt: Na los, worauf wartest du! So nah ist das sichere Schlauchboot. So schwarz all das da unten. Okay. Luft aus der Tarierweste lassen. Der Bleigurt zieht hinab. Kein Gedanke mehr an Aufgeben, denn rundum ist jetzt alles hell und bunt: Fische, Korallen, selbst das Wasser. Als hätte einen jemand in ein dicht bevölkertes Aquarium plumpsen lassen. Langflossen-Fledermausfische, Blaustreifen-Schnapper, Pfauen-Kaiserfische, Büffelkopf-Papageifische, Rotmeer-Clownfische - Namen, die später Bestimmungsbücher ausspucken. Jetzt will man nur eintauchen in einen verrückten, namenlosen Traum. Und nicht an Haie denken, die man vor der Küste des Sudan früher oder später sicher trifft.
Zehn Meter tiefer dann das Riffplateau, eine Art unterirdischer Sandstrand - genauso fein, sonnenbeschienen und warm bei 29 Grad Wassertemperatur. Nebenan fällt die Riffwand ab, überbordend besetzt mit Hirn-, Finger- und Steinkorallen, Tentakeln, Polypen, Anemonen und expressiven Fächern. Ein paar Flossenschläge weiter ein seltsamer Fremdkörper: ein mutiertes Seeigelskelett in Garagengröße? Eine abgestürzte Mondlandefähre? Man kann sich zwischen die Teleskopbeine treiben lassen und im Inneren in einer Luftblase auftauchen. Wie Jacques-Yves Cousteau, der hier vor mehr als 50 Jahren mit seiner schwimmenden Untertasse anlegte, in der Andockstation von "Précontinent II", einem Unterwasserdorf. Analog zu den Astronauten nannten sie sich Aquanauten und wollten statt des Weltalls die Unterwasserwelt besiedeln. Vier Wochen lang blieben fünf Forscher unten und experimentierten mit einem Leben unter Wasser: Sie sammelten Proben, Fische, Pflanzen. Sie glitten mit silbernen Tauchanzügen und silbernen Flossen spacig wie die Raumfahrer durchs Wasser. Aßen Sardinen aus der Dose, tippten auf Schreibmaschinen, rauchten, lasen, unterhielten sich mit ihrem Papagei. Bis heute kann man das verfolgen, in der Filmdokumentation "Welt ohne Sonne", die im Sudan spielt und die Zukunft meint.
Tunesien:Krake aus dem Topf
Das Archipel Kerkennah ist berühmt für seinen Tintenfisch. Gefangen wird er mit einer uralten Technik.
Man kann Cousteau verstehen. Einerseits. Aber so ohne Sonne - wollen wir das wirklich? Zumal sich nun die Druckluftflaschen leeren. Daher: Daumen nach oben, das Handzeichen fürs Auftauchen. Dann doch lieber die Nacht auf dem Katamaran von Renato verbringen, bei Barrakuda-Carpaccio und Dosenbier statt Dosensardinen. Als einziges Boot ankert die Uhuru heute beim Riff Shaab Rumi, weltberühmt etwa für seine Hammerhaie. Der Tauchspot liegt 48 Kilometer nordöstlich der Hafenstadt Port Sudan, von wo aus auch das Unesco-geschützte Sanganeb-Atoll mit seinem Leuchtturm und die Umbria zu erreichen sind, ein mit Munition beladenes Wrack aus Weltkriegszeiten. Renato Marchesan, gebürtiger Italiener, lebt seit 40 Jahren auf dem Wasser. Er war einer der Ersten, der Interessierte dorthin brachte, wo das Tauchen im Roten Meer begann. Und er ging als einer der Letzten noch einmal mit dem schon fast blinden Pionier Hans Hass auf Tauchgang. Der hatte sich vor der Küste des Sudan schon in den Vierzigerjahren unter Haie gemischt. Was fasziniert Marchesan hier? "Wenn Ägypten ein Unterwassergarten ist, dann ist der Sudan ein Dschungel." Noch gibt es die großen Fische: Haie, Makrelen, Mantarochen, Riesenzackenbarsche, Napoleon-Lippfische und Schulen von Barrakudas. Die Korallenwelt ist intakt, im Gegensatz zu vielen Tauchgebieten an der ägyptischen Küste des Roten Meeres.
Tauchgang Nummer zwei am Südplateau von Shaab Rumi. Komm runter, deutet Renato von unten. Und wir sinken ihm hinterher. Dann: ein Hai! Nein, drei. Wie die Geier kreisen die Riffhaie über uns. Die kleinen Fische, ganze Schwärme, ducken sich weg, wenn sie kommen. Im Nu ist das Meer leer. Als wäre jemand mit einem Kescher durchgegangen. Später am Tag wird der geübtere Rest der Gruppe auch noch Hammerhaie sehen. Der Sudan hält jedenfalls unter Wasser, was er verspricht.
Wer nicht taucht, denkt beim Sudan an Wüste, wehende Gewänder, Ziegen und Stammesfehden. Man kennt das Land aus den Nachrichten, nie aus Urlaubserzählungen. Dabei gibt es hier entlang des Nils Pyramiden - in Meroe, beim Jebel Barkal oder in Nuri. Sie wurden erbaut von den nubischen Herrschern des Reiches von Kusch. Präsent sind bei uns Darfur, der Südsudan und ein Präsident, der per internationalem Haftbefehl gesucht wird. Außerdem mehr als ein halbes Jahrhundert Bürgerkrieg. Seit zehn Jahren allerdings herrscht offiziell Frieden, der christliche Südsudan wurde 2011 in die Unabhängigkeit entlassen, die Wirtschaftssanktionen der USA wurden 2017 aufgehoben. Unruhen gibt es weiterhin, allerdings weit weg von der Küste und damit vom Red Sea State, wie sich die Provinz nennt, die sich momentan nach Touristen reckt. 5600 kommen jährlich in Port Sudan an. Fast alle mit Taucherbrillen, Tauchcomputern und Atemreglern im Gepäck. Sie wollen die alte Pracht des Roten Meeres sehen, abseits der Massen. Der Gouverneur ist voller Stolz - schließlich waren es vor drei Jahren erst 3000 bis 4000 Gäste. Er weiß, dass er keinen leichten Job hat. "Leider ist der Ruf des Sudan in der Welt schlecht", gibt Ali Ahmed Hamid zu. "Wir wollen ihn, wenn nicht attraktiv, dann zumindest akzeptabel machen."
Freitagabends auf der Corniche von Port Sudan. Familien, junge Paare, alte Leute, Kinder - alle treffen sich an ihrem freien Tag nach Sonnenuntergang. Überall lange Kleidung, Kopftücher, Plastiktische und bunte Stühle. Man trinkt Limonade oder Kaffee mit Kardamom und Ingwer, der an kleinen Wagen zubereitet und in der Kanne serviert wird. Alkohol ist verboten. Im Sudan gilt die Scharia. Eine Treppe höher spielen junge Männer Billard. Dazwischen sind Mädchen kichernd in Gruppen unterwegs. In vorderster Reihe haben Männerrunden ihre Stühle Richtung Wasser gedreht, mit Blick auf Tauchsafariboote, die hier vor Anker liegen. Sie sind vermutlich die einzigen, die im Sudan Geld mit Touristen machen. Auch der Staat kassiert fast 200 Dollar Steuern von jedem Taucher für eine Woche - plus 60 Dollar für das Visum. Bis auf wenige Ausnahmen kommen die Boote samt Besatzung, Tauchlehrern und Equipment aus Ägypten herüber, um diesen noch gut erhaltenen Teil des Roten Meeres mitzunehmen. Den Sudanesen bringt das keine Jobs.
Tauchen im Sudan funktioniert nach dem Prinzip Liveaboard, also nur vom Schiff aus. Es gibt keine einzige landbasierte Tauchbasis. Nur eine, die es werden will. Zum Sudan Red Sea Resort fährt man von Port Sudan aus 30 Kilometer auf der Fernstraße stur nach Norden - vorbei an kleinen Läden und Bretterbuden, Wohnhütten ohne Dach, gezimmert aus allem, was sich findet, von Wellblech bis zu ausrangierten Türblättern. Dazwischen Ziegenherden, Plastikmüll, Männer auf Kamelen, Zeltsiedlungen. Auf der einen Seite der Straße das Meer, auf der anderen die Wüste, die Sand in großen Wehen über die Fahrbahn pustet, bis kleine Dünen entstehen, um die herum der Verkehr fließen muss. Mitten im Nichts ein Wegweiser zum Resort. Weiter zum Meer, das hier seine triste Seite zeigt: flaches, bewegungsloses Wasser, kaum Tiere, leere Landschaft, Salzkrusten.
Theo Van Groesen, 34 Jahre alt, Holländer, sichtet gerade das Equipment. Der neue Manager will gemeinsam mit seiner Freundin eine von der Tauchvereinigung Padi lizenzierte Station im Hotel einrichten. Sie wissen, dass sie viel zu tun haben: Es mangelt im Sudan an guter Technik, an geschulten lokalen Tauchlehrern. Aber es lohnt sich, finden sie: "In vielen Ländern ist die Unterwasserwelt schon kaputt. Hier nicht", sagt Lisa Marlin. Das einzige andere Tauchresort, das es im Sudan bisher gab, war nur Fassade. In den Achtzigern tarnte der Mossad so eine Operation, die äthiopische Juden nach Israel brachte. Die Agenten mimten Hotelmanager und Tauchlehrer. Sogar Werbung wurde dafür gemacht. Dass Sudanesen die Unterwasserwelt suspekt ist, mag zum Gelingen der Geheimhaltung beigetragen haben.
Wie kommt ein Land zu Touristen, die die Nase auch mal aus dem Wasser strecken? Zumindest ist da die No-Fly-Time, ein bis zwei Tage, in denen Urlauber nach dem letzten Tauchgang zur Sicherheit erst einmal am Boden bleiben müssen. Wofür könnte man sie denn interessieren? Die Pyramiden sind weit weg, den Leuchtturm Sanganeb haben sie schon auf dem Wasser mitgenommen. Einzig Sawakin bietet sich an. Eine vergessene Stadt - errichtet von osmanischen Händlern, und zwar aus Korallen. Wenn das nicht verbindet.
Drei Familien wohnen noch auf Sawakin. Bald müssen sie wegziehen, denn die verfallenen Häuser sollen für Touristen originalgetreu wiederaufgebaut werden
Knapp eine Autostunde südlich von Port Sudan liegt Sawakin auf einer kleinen, kreisrunden Insel, zugänglich über einen Damm. Allerdings sind die alten Gebäude nicht mal mehr Ruinen, nur noch Schutthaufen, so sehr hat das Salz an ihnen genagt. Viel zu sehen gibt es nicht. Zwei Frauen und ein Mädchen mit einem in Tücher gewickelten Baby stellen ihre Flipflop-Füße ins Wasser, um sich abzukühlen. Dahinter die ehemalige Bank von Sawakin, von der noch ein paar Mauern stehen, genutzt von Seeadlern und Falken. Die Frauen gehören zu einer der letzten drei Familien, die noch auf der Insel wohnen. Nicht mehr lange. Bald werden sie umgesiedelt, in Häuser in der Neustadt. Seit eineinhalb Jahren restauriert die staatliche türkische Entwicklungsagentur Tika die Insel, die einst zum Osmanischen Reich gehörte, später zu Ägypten, dann zu Großbritannien. Sawakin war lange Zeit der größte Hafen auf der afrikanischen Seite des Roten Meeres und ein wichtiger Handelsposten. Von hier aus wurden Sklaven auf die Arabische Halbinsel gebracht, Pilger setzten nach Mekka über. Doch 1910 verlegten die Briten ihr Provinzhauptquartier nach Port Sudan, die öffentlichen Einrichtungen folgten, die Insel verfiel.
Nun soll Sawakin wieder komplett und originalgetreu aufgebaut werden, als Sehenswürdigkeit für Touristen, so heißt es. Das Vorhaben wird sowohl von Ägypten als auch von Saudi-Arabien misstrauisch beäugt; beide Staaten unterstellen der Türkei politische Interessen. Mit den zwei Moscheen haben die Planer aus der Türkei angefangen. Ein Hotel ist quasi fertig. Es ist ein ehrgeiziges Unterfangen. Einen Zeitplan gibt es keinen. Aber der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan war da, im Dezember 2017. Die Türken haben die vergessene Stadt für 99 Jahre zur Pacht bekommen. Die arabisch sprechenden Kinder von Sawakin begrüßen Gäste inzwischen mit einem "We love Turkey."
Wie Sawakin einmal aussah, die Häuser eng an eng, mit Fenstergittern aus Teak und verzierten hölzernen Erkern, das kann man sich bei "Vater Sawakin" anschauen. Auf Schwarz-Weiß-Fotos, ausgestellt in seinem Privatmuseum. Mohamed Nur Hadab, 83, steht, auf einen Bambusstock gestützt, mit Dschallabija und Turban gekleidet, vor einer Wand mit gerahmten Dokumenten. Sein Leben lang hat er alles gesammelt, was mit Sawakin zu tun hat: Verträge, Möbel, Kleidung, Geschirr und Geschichten. Er hat in der Altstadt gelebt, wie auch seine Vorfahren. Bis alle wegzogen. Sein früherer Arbeitgeber, ein internationales Bauunternehmen, schenkte ihm ein Stück Land, um seinen Traum zu verwirklichen und ein Museum zu bauen. Seit zehn Jahren steht es nun - in Hadab, einem nach ihm benannten Dorf am Stadtrand. Freut er sich, dass die Türken Sawakin wieder aufbauen wollen? "Ja, schon, aber noch mehr würde ich mich freuen, wenn die Deutschen nun Hadab aufbauten." Tatsächlich mutet es seltsam an, wenn eine ganze Stadt zum Sightseeing errichtet wird, während viele Sudanesen kein Geld für ein Dach auf ihrer Hütte haben. Wäre es nach den Aquanauten gegangen, würden inzwischen ohnehin alle unter Wasser leben - ohne Staub, ohne Hitze, ohne Sonne.