Banff National Park in Kanada:Raketen im Delirium

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Im Banff National Park in den Rocky Mountains gibt es ausreichend Platz - und die steilste Ansammlung von Schnee für Hasardeure.

Thomas Becker

Seinen Spitznamen hat er schnell weg: Avalanche-Dan. Nicht, weil er an sechs von sieben Tagen mit Lawinenschaufel im Rucksack herumführe. Nein, es ist dieses Lachen. So muss es klingen, wenn eine Lawine direkt neben einem losbricht: Gewaltig, dröhnend, als gäbe es kein Morgen mehr. Das Einzige, was Dans Lachen von einem Lawinenabgang unterscheidet, ist die Frequenz: Dan lacht ständig. Sein tiefes, massiges Lawinenlachen. Egal wo und in welcher Situation.

Gern auch in diesem 50 Grad steilen Hang, in dem nur im Frühjahr die Sonne vorbeischaut, wenn er eine Gruppe von Skifahrern dabei hat, die zum ersten Mal dort oben steht. Und dann sagt er Sätze wie diesen: "Wenn du jetzt stürzt, gehst du ab wie eine Rakete." Will sagen: 600 Meter tief. Ohne eine Chance anzuhalten. Und dann lacht er, der Avalanche-Dan.

Piepser und Partner vonnöten

Der Einstieg zum "Delirium Dive" im Skigebiet Sunshine, Banff National Park. Die steilste Ansammlung von Schnee, die man weit und breit unter die Skier nehmen kann. Erst seit sieben Jahren darf man hier wieder runter, davor war der Hang fast zwei Jahrzehnte lang gesperrt. Doch das in Mode kommende Freeriden klopfte den Widerstand der Bürokratie weich: Wer mit Lawinenpiepser, Schaufel und einem Partner ausgerüstet ist, darf an der Bergstation des Lookout Mountain beim Pistendienst vorstellig werden. Die Ausrüstung kann nur unten im Tal ausgeliehen werden.

Auf übermütige, womöglich alkoholisierte Spontan-Täter kann man hier oben verzichten. Gut hundert Meter Aufstieg fehlen noch zum Gipfel des "Aussichtsberges" auf 2730 Metern, ein Zaun samt elektronischem Tor versperrt den Weg. Es öffnet sich nur, wenn der Lawinenpiepser ein Signal sendet. Wer meint, über den Zaun steigen zu müssen, ist schnell seinen Skipass los - und der ist nicht gerade billig.

Oben angekommen, schrumpft die Truppe der Mutigen. Wir stehen auf der Continental Divide, der Wasserscheide des Kontinents. Vor uns die Gipfelflut der Provinzen Alberta und British Columbia, aus der der Mount Assiniboine herausragt, das Matterhorn Kanadas. Hat sich der Mensch satt gesehen, geht"s zum Eigentlichen: "Delirium Dive", Abfahrt Nr. 91, eine so genannte Double Black, also richtig schwierig. Bevor wir die Skier anlegen, müssen wir eine steile Treppe hinab und einen vereisten, natürlich verdammt schmalen Grat entlang - die Nicht-Schwindelfreien steigen hier aus.

Gemütsmenschen sind gefragt

Avalanche-Dan redet wie ein Buch, will uns keine Zeit geben für Gedanken, was passieren könnte, wenn einer in seinen klobigen Skistiefeln ausrutscht. Dan ist ein Berg von einem Kerl, ein Typ wie Hoss Cartwright aus "Bonanza". Auch unser Lawinen-Dan ist ein Gemütsmensch. Einer, dem man sich schon nach kurzer Zeit gern anvertraut. Am Tag darauf wird uns sein Skischulchef erzählen, wie Dans Bewerbung ablief: "Normalerweise hocke ich mich mit den Jungs eine Stunde lang hin und fühle ihnen auf den Zahn. Bei Dan hab' ich nach zwei Minuten gesagt: ,Lass' uns ein Bier trinken gehen'."

Gut, so einen dabei zu haben. Endlich klacken die Bindungen, es geht los. Dan sagt: "Es fährt immer nur einer im Hang. Ein Stürzender könnte andere mitreißen." Da wollen wir jetzt mal lieber nicht dran denken. Die Sicht ist schlecht, der Schnee griffig, die Schwünge lösen sich wie von selbst, verursachen Mini-Schneebretter, die friedlich mit uns talwärts rieseln. Skitechnisch keine schwierige Abfahrt, es ist der Kopf, der die Sache kompliziert macht.

Je näher das Tal rückt, je kürzer die potenzielle Sturzstrecke wird, desto entspannter geht die Fahrt. Am Ende machen wir uns sogar ein bisschen über Dan lustig, der in seinen roten Skiklamotten und diesem superkontrollierten Stil mit der Null-Sturz-Garantie wie einer dieser österreichischen Klischee-Skilehrer bergab wedelt. "Was? Ich fahre wie ein Österreicher?" Und dann tönt es wieder, dieses wunderbare Lawinen-Lachen von Avalanche-Dan.

Skifahren, wo sonst keiner hinkommt, das ist der Traum vieler Europäer, die das Ameisengewusel auf überfüllten Alpengletschern nervt. Die Folgen des Abenteurerdranges sind regelmäßig in den Zeitungen nachzulesen, wenn die Lawinentoten vom Wochenende gemeldet werden. Die Rockies bieten andere Möglichkeiten. Viele Gebiete sind so riesig, dass es ausreichend ungespurtes Gelände gibt. Pistendienste sprengen lawinengefährdete Hänge mit Dynamit ab.

Extrem, extrem, extrem...

Und in Sunshine, das mit dem Slogan "Canadas best snow" wirbt und ohne Schneekanonen auskommt, gibt es bei Yamnuska auch Kurse für Extrem-Skifahrer und -Snowboarder. Eine Investition, die lohnt. Zwar kann man sich bei Pistennamen wie "Think again" oder "Stampede" denken, dass es kernig bergab geht, aber selbst bei den Leckerbissen kennen Ortskundige eine immer noch bessere Route.

In Lake Louise, dem anderen großen Gebiet im Banff National Park, treffen wir Eric Hjorleifson und Kevin Hjertaas, zwei Burschen, die ihr Geld damit verdienen, die steilsten Hänge möglichst flott runter zu kommen. Mit Warren Miller, dem Steven Spielberg der Ski-Filmer, haben sie gerade gedreht. Es sind brave, unspektakuläre Typen, die kaum ein Wort über ihren Job verlieren.

Wer mit den beiden durch die Back Bowls am Mount Whitehorn fährt, braucht auch nicht mehr viel reden. Dem bleibt erst einmal die Spucke weg. Den extrem steilen, windgepressten Hang, den wir mit einem guten Dutzend mutiger Schwünge bezwungen haben, bewältigen sie mit gerade mal zwei endlos langen Hochgeschwindigkeitsschwüngen.

Ganz normale Menschen, das!

Gemeinsam fahren wir in eine sehr lange Buckelpiste, es macht Spaß, wir sind gut drauf - bis wir aus den Augenwinkeln sehen, dass Eric und Kevin längst wieder raus sind aus den Buckelbergen. Federleicht wirkt das. Sie sind auch keine wilden Gestalten mit monströsen Oberschenkeln, im Gegenteil. Eric ist 21 und dürfte kaum mehr als 70 Kilo wiegen, Kevin ist 30, hat acht Innenbandrisse hinter sich, beide arbeiten im Sommer als Steinmetze.

Sie scheinen jede Flocke zu kennen, nehmen uns in Hänge mit, die wir uns selbst nicht zugetraut hätten. Ein Felsabbruch hat einen Steingarten entstehen lassen: mannshohe Klötze, dick zugeschneit, vom Zufall hingewürfelt, als hätte er einen Slalom stecken wollen - eine irre Fahrt. Wir sind gehörig beleidigt, als wir wieder ein paar Meter Piste fahren müssen.

Das fällt dafür am nächsten Tag komplett aus: Es geht zum Heli-Skiing. Zwar wurde diese Spielart vor knapp 40 Jahren in Banff erfunden, doch wer sich heute ins Pulver fliegen lassen will, muss das Bundesland wechseln. Im Banff National Park, einem von der Unesco geschützten Weltkulturerbe, ist Heli-Skiing verboten. Zwei Stunden dauert die Fahrt über den Kicking-Horse-Pass ins Städtchen Panorama in den Purcell Mountains von British Columbia. Das mächtige Frühstück kostet noch mal Zeit, der Koch ist streng: "It's a long day. Eat everything!"

Luke Skywalker ist mit von der Partie

Auch bei der ausführlichen Sicherheitsbelehrung inklusive Verschüttetensuche kommt keine Hektik auf. Unser Guide heißt Luke und sieht unglaublich aus: schwarz-gelb-grün-pinkfarbener Overall aus den 80ern, darüber eine Skimütze im Badekappen-Look, altrosa mit silbernen Sternen. Auch sein Spitzname ist schnell klar: Luke Skywalker. Prompt fällt uns dieses Pappschild am Lift in Sunshine ein: "Don"t worry, you look great!" Im Gegensatz zu Lukes Antik-Latten bekommen wir Fat Skis, die den Fahrer dank Überbreite nicht so tief in den Schnee sinken lassen.

Vier Mal wird uns der Hubschrauber später im Irgendwo absetzen - ungefähr vierhundert Mal zu wenig. Suchtpotenzial: gewaltig. 360-Grad-Gletscher-Panorama. Als der Pilot zum ersten Mal abdreht und wir schon in Vorfreude mit den Stöcken klappern, weist uns Mr. Skywalker noch mal zurecht: "Rule No.1: Don't smile!" Sprach's, grinst, setzt die Badekappe auf und zischt ab, mittenrein ins pulvrige Nichts. 1500 Höhenmeter. Und wir gehen ab. Wie Raketen.

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© SZ vom 17. November 2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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