Städtereisende wollen vieles erleben, am besten aber Orte entdecken, die nicht in jedem Reiseführer oder jeder App zu finden sind. Wer könnte besser durch die Stadt führen als jemand, der dort wohnt oder zumindest eine ganze Weile gelebt hat? Süddeutsche.de hat SZ-Korrespondenten in fernen Metropolen gebeten, "ihre" Stadt anhand eines Fragebogens zu präsentieren. Diesmal erklärt Christoph Neidhart, warum in Tokio Kopien manchmal besser sind als das Original und weshalb hier nichts so alt ist, wie es scheint. Außerdem verrät er, von wo aus Sie den schönsten Blick auf Tokio haben.
Jetzt nur nicht lachen: Ein Brautpaar wird sonnengeschützt zum Meiji-Schrein geleitet.
(Foto: AFP)Was macht Tokio aus?
In Tokio ist alles zu voll, zu eng, die Wege sind zu weit. Dennoch gelingt es den Japanern, äußerlich Ordnung zu halten. Und pünktlich zu sein. Besonders laut ist die Hauptstadt Japans eigentlich nicht, in der überfüllten U-Bahn herrscht Schweigen. Wer sich in Tokio nie verirrt hat, war nicht wirklich in Tokio. Solche Erfahrungen sind intensiver als das Abklappern von Tempeln. Außerdem gehört die kleine Panik, man finde nie mehr aus diesem Labyrinth heraus, zur Tokio-Erfahrung. Sogar Japaner, die hier geboren sind, verlieren sich zuweilen.
Welche Sehenswürdigkeit dürfen Sie nicht verpassen?
Japan ist ein altes Land, aber in Tokio ist fast alles neu. Die Stadt, 1603 als Edo gegründet, ist immer wieder abgebrannt. 1923 wurde sie von einem Erdbeben, 1945 von US-Bombern völlig zerstört. Und wenn ein Haus 30 Jahre alt ist, reißen die Japaner es ab. Dennoch tut Tokio gerne so, als wäre es steinalt. Etwa mit dem Meiji-Schrein, der sehr alt aussieht, aber erst 1920 geschaffen wurde. Er täuscht alte Geschichte vor. Am besten besuchen Sie ihn an einem Samstag, wenn dort viele Hochzeiten gefeiert werden.
Die Bräute sind todernst, sie dürfen nicht fröhlich wirken - schließlich verlassen sie ihr Elternhaus, da gehört sich gute Laune nicht. Auch die Hochzeitszeremonien sind übrigens nicht alt, obwohl sie mit ihren Kostümen wirken, als seien sie 500 Jahre alt. Sie wurden Ende des 19. Jahrhunderts erfunden, zuvor gab es in Japan nie religiöse Hochzeiten. Der Meiji-Schrein und auch Hochzeiten bieten also nur konstruierte Geschichte, und wie es sich gehört, ist die Konstruktion eindrücklicher, als es eine historische Wirklichkeit wäre.
Was ist noch sehenswerter - doch nur wenige Urlauber wissen davon?
Die Japaner sind geschickte Gestalter ihres Raums, allerdings nur jenes Raums, den sie als ihren verstehen. Den öffentlichen Raum gestalten sie nicht, Straßen und Kreuzungen sind chaotisch, städtische Plätze gibt es nicht. Eine Ausnahme sind Parks, die als nicht-öffentlich angesehen werden, da sie zwar zugänglich sind, aber Institutionen oder Personen gehören. Japaner schaffen die schönsten Gärten der Welt, etwa den Shinjuku-Gyoen.
Welches Viertel sollten Sie unbedingt besuchen?
Viele Viertel gibt es nicht mehr, in denen das kleinteilige Tokio der Sechziger- und Siebzigerjahre weiterlebt. Eines von ihnen ist Shimo-Kitazawa mit kleinen Läden und Kneipen, doch seine Tage sind gezählt: Es wird "saniert", die Arbeiten haben schon begonnen. Ein anderes ist Sangenjaya etwas weiter südlich; und sicher ist die Küchenstraße (Kappabashi-Dori) unweit des berühmten Tempels Asakusa einen Besuch wert, dort verkaufen mehrere Dutzend Läden ausschließlich Küchenuntensilien (und Lebensmittel-Attrappen).
Den schönsten Blick auf Tokio haben Sie ...
... vom städtischen Rathaus in Shinjuku aus. Beide Türme des Architekten Kenzo Tange verfügen über geschlossene Aussichtsplattformen im 45. beziehungsweise 48. Stock, die man umsonst besuchen kann. Sie sind von 9.30 bis 23 Uhr geöffnet. Auch die Aussicht vom Tokyo Tower ist gut, der neue Sky Tree dagegen ist zwar höher, aber weiter vom Stadtzentrum entfernt.
Das können Sie sich in Tokio sparen:
Den Kaiserpalast muss man nicht gesehen haben, man erblickt ohnehin kaum etwas von ihm, da die kaiserliche Familie dort wohnt. Besucher dürfen nur in einen Teil des äußeren Parks und erkennen von dort aus kaum das Dach.