Städtereisen:Ruhe, große Stadt

Städtereisen: Berlin - mal laut, mal leise.

Berlin - mal laut, mal leise.

(Foto: imago; Illustration: Jessy Asmus)

Wir lieben Großstädte für ihr Nachtleben, den Trubel, die Abwechslung - und leiden doch unter ihrem Lärm. Eine App zeigt ruhige Orte in großen Städten.

Von Hannah Beitzer

Menschen hasten im Berliner Schneeregen die U-Bahntreppe zum Hermannplatz rauf und runter, ein Gemüsehändler preist laut seine Ware, im Stand nebenan gibt es Börek, daneben Kaffee. Ein paar Schritte weiter beginnt die Weserstraße, wo sich Restaurant an Café an Imbiss an Späti an Klamottenladen reiht. Hinter dem Reuterkiosk schließlich, wo sich die Kinder der Nachbarschaft nach der Schule treffen, liegt der berühmte Campus Rütli.

Der Reuterkiez steht für vieles, was Menschen nach Berlin treibt, was auch Touristen an Deutschlands größter Stadt fasziniert: eine multikulturelle Nachbarschaft, viel Leben auf den Straßen, unendlich viele Möglichkeiten zu essen, zu trinken, zu feiern, zu kaufen, zu gucken. Doch was, wenn der Trubel mal zu viel wird? Wo können Nachbarn und Besucher einen Moment zur Ruhe kommen? Am Landwehrkanal zum Beispiel, der sich einige Gehminuten nördlich durch die Stadt schlängelt.

Auch im beliebten Stadtteil Kreuzberg gibt es Plätze, an denen sich die Menschen erholen können, zum Beispiel am Viktoriapark in der Nähe der Touri-Meile Bergmannstraße. Und sogar am vom Verkehr umtosten Ernst-Reuter-Platz in Charlottenburg, wo täglich Studenten auf dem Weg zur Universität vorbeikommen, gibt es ruhige Plätze unter Bäumen zwischen den großen Uni-Gebäuden, die von außen unwirtlich wirken. Orte wie diese finden sich in der App "Hush City" - zu Deutsch etwa: ruhige Stadt.

"Eine Stadt muss nicht nur gut aussehen"

Die italienische Klangforscherin Antonella Radicchi hat die App "Hush City" entwickelt, Menschen auf der ganzen Welt haben seitdem darin mehr als 450 Ruheorte eingetragen, sie liegen in Berlin, New York, im spanischen Granada oder im australischen Perth. Solche Plätze seien wichtig in den wachsenden Städten, wo die Bewohner permanent von Autos, Baustellen, Flugzeugen und anderen Menschen umgeben sind, sagt Radicchi: "Menschen, die ständig Lärm ausgesetzt sind, leiden häufiger unter Schlafstörungen und Bluthochdruck und sind anfälliger für Herzinfarkte."

125 Millionen Menschen sind einer Studie der Europäischen Umweltagentur zufolge in Europa gesundheitsgefährdendem Lärm ausgesetzt. "Orte der Ruhe sollten jederzeit im Alltag zu Fuß erreichbar sein", sagt die Forscherin. "Alle Menschen sollten ein Recht auf Ruhe haben. Mein Ziel ist es deswegen, diese Orte nicht nur zu finden, sondern sie auch zu schützen."

Radicchi, die zurzeit in Berlin lebt und dort an der Technischen Universität forscht, hat sich bereits während ihres Masterstudiums an der Universität Rom III auf die Bedeutung von Geräuschen in der Stadtplanung spezialisiert und sich in ihrem Promotionsstudium der Stadtplanung auf die relativ junge Fachrichtung "Soundscape Studies" fokussiert. Sie interessiert sich als Forscherin besonders für die Ruhe, die viele Städter so schmerzlich vermissen. "Eine Stadt muss nicht nur gut aussehen, sie muss auch auf die anderen Sinne der Menschen eingehen", sagt sie.

Deswegen ermittelt sie gerade in einer Studie, welche Rückzugsorte Stadtbewohner schätzen, um dem Lärm zu entkommen. Dafür hat sie im dicht bewohnten Neukölln mit seinen viel befahrenen Straßen, den Kneipen und Restaurants Anwohner, Stadtteilinitiativen und Berufstätige befragt, wo sie Ruhe finden. Außerdem hat sie "Soundwalks" organisiert, Spaziergänge, auf denen sie die ruhigen und nicht so ruhigen Orte der Nachbarschaft mit Gruppen begeht und mit den Teilnehmern über ihre Geräuscherlebnisse spricht.

Die reine Messung von Dezibel bringe einen auf der Suche nach Ruheorten nicht weiter, sagt die Forscherin. Ihre App fordert die Nutzer zunächst dazu auf, die Geräusche der Umgebung aufzunehmen. Dabei sollen sie selbst in die Umgebung hineinhören. Danach analysiert die App den Lärmpegel. Doch es spielten noch viele andere Faktoren eine Rolle, sagt Radicchi. Zum Beispiel die Gestaltung der Orte: Sauberkeit fördere das Gefühl von Stille und Rückzugsmöglichkeiten, ebenso Pflanzen oder Bänke, auf denen Menschen sitzen können. Wichtig sei auch das Sicherheitsempfinden: "In einer unwirtlichen, dunklen Umgebung zum Beispiel kann die Abwesenheit von Geräuschen bedrohlich oder bedrückend wirken. Oder einfach langweilig."

Und nicht zuletzt hängt es auch von Tages- und Uhrzeit und der persönlichen Stimmung ab, welche Geräusche Menschen als angenehm empfinden. Vogelgezwitscher am Nachmittag im Park finden viele Leute schön. Ein zwitschernder Vogel morgens um fünf vor dem offenen Schlafzimmerfenster kann schon eine ganz andere Sache sein. Deswegen fragt Radicchi die Nutzer ihrer App: Wie sieht es an deinem Rückzugsort aus? Wann hast du ihn besucht? In welche Stimmung versetzt er dich? Welche Geräusche gibt es dort? Und wie beeinflussen sie dich? In einer Folgestudie will Radicchi außerdem kulturelle Unterschiede in der Wahrnehmung von Geräuschen erforschen.

Auffällig ist für die Forscherin vor allem eines: Es seien keine - im physikalischen Sinne - stillen, also verlassenen Orte, die die Menschen in der App nennen. "Sie assoziieren Ruhe mit Orten, die ruhig sind, aber auch die Kommunikation fördern." Oft seien das Spielplätze, kleine Grünanlagen mit Bänken oder Cafés in wenig befahrenen Straßen. "Man muss dort nicht reden, aber man kann", sagt sie.

Auf einem der "Soundwalks" habe ein Teilnehmer auf die Frage nach seinen Orten der Ruhe in der Stadt geantwortet: Hauseingänge. Radicchi sagt: "Das fanden wir anderen erst einmal seltsam. Aber dann hat er erklärt, dass er immer, wenn er auf der Straße telefonieren muss, in einen Hauseingang geht, um sein Gegenüber verstehen zu können." Ruhe, so schlussfolgert sie, ist für viele Menschen nicht etwa die Abwesenheit jeglicher Geräusche. Sondern eine Umgebung, die Raum und Möglichkeiten für Gespräche und Begegnungen öffnet.

Wie unterschiedlich die Bewertung dieser Räume ausfällt, erlebte Radicchi am Reuterplatz in Neukölln. Auf dem Platz gibt es vieles von dem, was Menschen andernorts an ihren Rückzugsorten schätzen: ein bisschen Grün, einen Spielplatz, einen Kiosk, an dem sich die Kinder und Jugendlichen des Viertels treffen können, Platz zum Spazieren. "Einige Anwohner nannten ihn als Ort der Ruhe, andere widersprachen vehement. Sie empfinden ihn als zu laut." Der Grund: Am Reuterplatz treffen sich am späten Nachmittag und in den Abendstunden häufig Touristen und Berliner aus anderen Kiezen, die in den Restaurants und Bars im Kiez essen und feiern wollen. Auch über die Musik, die aus den Bars kommt, beschwerten sich einige Anwohner.

"Die Besucher müssten Rücksicht nehmen"

Es sei ein bekanntes Dilemma, sagt Radicchi: "Touristen und andere Besucher können einen positiven Effekt auf ihre Umgebung haben, wenn zwischen ihnen und den Anwohnern ein Austausch entsteht." Denn um Kommunikation gehe es schließlich an den Ruheorten. Doch dafür sei Respekt nötig - den einige Neuköllner bei den Feiertouristen vermissen. "Die Besucher müssten Rücksicht darauf nehmen, dass im Viertel nicht nur Menschen feiern, sondern auch leben und schlafen wollen."

Damit ist die Klangforscherin bei der Frage, die in Berlin seit einigen Jahren die Stadtplanung und auch die Diskussion über Tourismus dominiert: Wer besitzt die Stadt? Viele Berliner sehen sich inzwischen in einem Kampf - gegen Investoren, gegen Zugezogene und eben auch gegen die Touristen, die in Neukölln im Reuterkiez ausgehen.

Ein Kampf mit ungleichen Mitteln, finden sie. Denn ihr Gegenüber bringt das mit, was vielen Anwohnern fehlt: Geld. "Wenn ganze Straßen nur noch aus Restaurants und Bars bestehen, sich nur noch nach den Bedürfnissen einer bestimmten Gruppe richten, dann ist das nicht gut", sagt Radicchi. Bezogen auf ihren Fachbereich fordert sie deswegen, dass Stadtplaner und Politiker in den Metropolen ein ganzes Netz von Rückzugsorten planen und schaffen sollen. Denn Stille brauchen alle Menschen, auch in den Stadtteilen, die Besucher für ihre laute Urbanität schätzen.

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