Süddeutsche Zeitung

Städtereise in Österreich:Wie Linz sich aus dem Sumpf zog

Linz galt lange als schmutzig und glanzlos. Heute erleben Besucher eine Stadt voller Experimentierfreude, mit kreativen Projekten in alten Industriebetrieben.

Von Stephanie Schmidt

Manche Kugeln schimmern rötlich, andere blau oder grün. Kleine und große Kugeln, mit Stangen zu einer Installation verbunden, die sich 30 Meter in die Höhe reckt. 80 Kugeln sind es insgesamt, die größten haben einen Durchmesser von zweieinhalb Metern. Illuminiert von einer 700 Quadratmeter großen LED-Fläche zieht die Kugelskulptur im Inneren der Voestalpine-Stahlwelt in Linz die Blicke aller auf sich, die das Foyer betreten. Sie ist eine Hommage an den Baustoff Stahl und Herzstück der multimedialen Erlebniswelt auf fünf Etagen.

"Die Kugeln symbolisieren die Molekularstruktur von Stahl", erklärt Sieglinde Schrey. "Sie bestehen aber nicht aus Stahl, sondern aus mit Chrom beschichtetem Kunststoff." Die 57-Jährige arbeitet als Guide in der Stahlwelt - von außen betrachtet sieht das Gebäude wie ein Periskop aus. Die Architektur der Erlebniswelt steckt voller Anspielungen auf den biegsamen Baustoff. So ist die Form der Eingangshalle einem Konverter nachempfunden, der Eisen in Stahl umwandelt.

Im Jahr 2009 wurde die Erlebniswelt eröffnet - ein wichtiges Jahr für den Konzern sowie für die oberösterreichische Landeshauptstadt. Denn vor zehn Jahren präsentierte sich Linz als europäische Kulturhauptstadt. Seitdem hat sie sich weiter gewandelt, vom Industriestandort zur Kunststadt. "Linz hatte ein schmutziges Image, aber wir haben uns am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen", sagt Georg Steiner, der Direktor des Tourismusverbands.

60 Prozent Parks und Gewässer

Seit Mitte der Achtzigerjahre habe man, so die Auskunft der Pressestelle des Magistrats, eine "konsequente Politik" verfolgt, um Schadstoffe wie Schwefeldioxid, Feinstaub und Stickstoffdioxid zu reduzieren. Die Emissionen - verursacht durch die Haushalte der 200 000 Einwohner, die Chemieindustrie, den Verkehr - seien von 47 000 Tonnen im Jahr 1985 auf rund 14 000 in 2003 gesenkt worden; die Werte seien seitdem relativ konstant. Tatsächlich habe auch Voestalpine, der größte Industriebetrieb der Stadt, die Emissionen seit den 80er-Jahren erheblich reduziert, so die Stadtverwaltung. Als weitere Maßnahmen sollen die Taxis der Stadt auf E-Betrieb umgerüstet und die Schiffsanlegestellen entlang der Donau, wo viele Kreuzfahrtschiffe anlegen, mit Landstromanschlüssen versehen werden. Gut für das Klima ist sicher auch, dass 60 Prozent des Stadtgebietes Parks oder Gewässer sind.

Auch Michael Kirchsteiger, Geschäftsführer der Voestalpine-Stahlwelt, begleitet mitunter Gäste auf dem didaktischen Rundgang, der vermittelt, wie Stahl auf dem 5,2 Quadratkilometer großen Produktionsgelände erzeugt und verarbeitet wird. "5,8 Millionen Tonnen Stahl produzieren wir am Standort Linz jedes Jahr im Durchschnitt", so Kirchsteiger. Während der Führung geht man auf einer breiten Treppe rund um die riesige Chromkugelskulptur nach oben, begleitet von einem Rauschen und von Klopfgeräuschen - der typischen Klangkulisse der Stahlproduktion. Wer diese in der Realität erleben möchte, kann an einer Tour durch das Werk teilnehmen.

Auf dem Erlebnisrundgang mischen sich Sinneseindrücke mit Fakten: Zur Führung gehört ein Streifzug durch die wechselvolle Geschichte des Technologieunternehmens, die mit dem Linzer Eisen- und Stahlwerk der Reichswerke Hermann Göring AG begann. Intensiver eintauchen kann man im Zeitgeschichte-Museum des Konzerns. Das mithilfe des Marschallplans nach dem Krieg wiederaufgebaute Unternehmen hießt zunächst Vöest, das steht für "Vereinigte Österreichische Eisen- und Stahlwerke". Heute beschäftigt der Konzern Voestalpine 52 000 Mitarbeiter - 11 000 von ihnen in der Zentrale in Linz. Anhand zahlreicher Exponate wird deutlich, wie vielseitig verwendbar das Material ist. Stahl für die Automobilindustrie, für die Luftfahrt, für Ölpipelines, für Haushaltsgeräte. Weltmarktführer ist Voestalpine bei der Entwicklung von Weichen- und Schienensystemen. "Und wir produzieren die Prägestempel für fast alle europäischen Länder, die den Euro haben", berichtet Kirchsteiger.

Eine knappe halbe Stunde fährt man mit Trambahn und Bus von dem am Stadtrand gelegenen Werksgelände zurück in die Linzer Altstadt mit ihren Arkadenhöfen, verwinkelten Gässchen und Kunstgalerien. Tourismusdirektor Steiner weist auf den Kontrast zwischen Barockbauten und moderner Architektur hin. Diese verkörpert zum Beispiel das im Jahr 2003 eröffnete Lentos-Kunstmuseum. Positioniert man sich an der Unteren Donaulände vor dem kantigen Baukörper des Lentos, in dem moderne Kunst zu sehen ist, so wirkt es wie ein Bilderrahmen, dessen zentrales Motiv ein anderes Gebäude am gegenüberliegenden Donauufer bildet - das Zukunftsmuseum Ars Electronica Center (AEC). Seine Fassade ist verkleidet mit 40 000 LEDs. Abends sorgen sie für ein lebhaftes Schauspiel: Das AEC schillert in verschiedenen Farben.

Zehn Jahre nach dem Kulturhauptstadtjahr 2009 ist die Dauerausstellung des AEC im vergangenen Mai komplett umgestaltet worden. Sie verfügt nun über eine Ausstellungsfläche von 3500 Quadratmetern. Im Mittelpunkt der neuen Schau stehen die Einsatzmöglichkeiten künstlicher Intelligenz (KI). Im "Machine Learning Studio" kann man Roboter programmieren und Experimente mit selbstfahrenden Autos machen. Ein weiteres Thema: künstliche Intelligenz als Urheberin von Texten. So stellt die Schau eine besonders prachtvolle mittelalterliche Handschrift, eine Kopie der Wenzelsbibel aus dem 14. Jahrhundert, einem Text zum Thema "Recycling is good for the world" gegenüber. Dessen Autor ist aber kein Mensch, sondern ein KI-System. "Der Text ergibt Sinn, aber wie das System auf ihn gekommen ist, wissen wir nicht", sagt Manuel Walch, der im Museum als "Infotrainer" arbeitet. "Das ist unheimlich", sagt eine Besucherin, die dem jungen Mann zufällig zugehört hat. Die Infotrainer, erkennbar an ihren orangefarbenen T-Shirts, sollen Besucher an den interaktiven Experimentierstationen unterstützen.

Neben der Hauptausstellung gibt es temporäre Sonderschauen. Dauerhaft zu erleben ist hingegen die neue Ausstellung "AI x Music - Artificial Intelligence meets Music". Sie widmet sich dem Zusammenspiel von künstlicher Intelligenz und Musik und wartet mit einer erstaunlichen Information auf: Die Wurzeln der automatisierten Musik reichen bis in die Mitte des neunten Jahrhunderts nach Christus zurück: In der Schau kann man den Tönen eines rekonstruierten Flötenspielautomaten lauschen und hört Tonserien, wie sie vor mehr als 1000 Jahren im arabischen Kulturraum erklangen. Dabei handelt es sich um das erste programmierbare Musikinstrument der Menschheitsgeschichte.

Wie von Geisterhand gesteuert gibt ein Bösendorfer-Flügel "Ma mère l'oye" von Maurice Ravel zum Besten - KI macht's möglich - und hinterlässt beim Betrachter doch ein komisches Gefühl. Digitale Musik ist auch einer der Schwerpunkte des Medienkunst-Festivals Ars Electronica, das bereits seit 1979 jeden Herbst in Linz stattfindet. "Das Festival ist Treffpunkt für Vorreiter und Visionäre", sagt Tourismusdirektor Steiner. Er verweist etwa auf Julian Assange, der dort für Wikileaks geehrt worden sei: "Da wusste noch keiner, was das ist."

Wie das Zukunftsmuseum AEC appelliert auch der "Höhenrausch" im OÖ Kulturquartier an die Experimentierfreude der Besucher. Das Festival, das anlässlich des Kulturhauptstadtjahrs 2009 entstand, verbindet Gegenwartskunst mit Spaziergängen auf den Dächern von Linz. Es hat sich zu einer festen Größe im Linzer Kulturleben entwickelt. Für das diesjährige Motto "Sinnesrausch" waren Kulturschaffende aus aller Welt eingeladen, künstlerische Positionen zu Blasen, Linien, Punkten zu entwickeln. Dabei konnten Besucher selbst ausprobieren, wie es sich anfühlt, wenn man sich sprichwörtlich in einer Blase bewegt - dafür wurde in eine mit zitronengelbem Stoff ausgekleidete Halle laufend Luft gepumpt, sodass der Stoff Wellen und Hohlräume bildete. Im OÖ Kulturquartier finden das ganze Jahr über Ausstellungen und Festivals statt. "Anders als bei einem klassischen Museumsviertel ist bei uns bis zwei Uhr nachts was los", sagt der künstlerische Direktor Martin Sturm. Der Germanist hat das OÖ Kulturquartier seit 1992 peu à peu aufgebaut. Die Kulturszene der Stadt und ihre Einwohner charakterisiere ein "offener Zugang zur Welt" und die "Neugierde auf das Ungewöhnliche".

Dafür steht zum Beispiel "Mural Harbour": Seit 2012 haben Künstler aus aller Welt ein riesiges Areal im Linzer Industriehafen in eine Open-Air-Galerie verwandelt. Jedes Jahr kommen neue Wandgemälde und Graffiti auf den Außenmauern der Lagerhallen hinzu. Man kann sie während eines geführten Rundgangs erleben, aber noch eindrucksvoller wirken diese Murals während einer Tour mit dem Lastkahn.

Die Lust auf das Ungewöhnliche, sie zieht sich wie ein roter Faden durch das Leben von Chris Müller, der seit 2013 Direktor der Tabakfabrik Linz ist. Der 46-Jährige hat die Aufgabe, das knapp 80 000 Quadratmeter große Areal nahe der Unteren Donaulände zu einem Vorzeigequartier der Kreativwirtschaft zu entwickeln. Nachdem vor zehn Jahren die Tabakproduktion eingestellt worden war, erwarb die Stadt Linz das Areal. "Ich habe Kunst studiert und Theater in Berlin gemacht", erzählt Müller. Seinen Job in der denkmalgeschützten einstigen Industrieanlage, die in den Jahren 1929 bis 1935 entstand, beschreibt er so: "Wie gewinnt man Kreativität statt Tabak?" Inzwischen sind hier 250 Organisationen und Firmen, darunter 80 Start-ups, aus Bereichen wie Design, Architektur, Werbung, Software, Darstellende Künste oder Film und Fotografie untergebracht. "Wir wollen bunt sein", sagt der Direktor. Sein Büro gleicht einer Schaltzentrale, in der verschiedene Apparate mit blinkenden Knöpfen stehen - ein paar von ihnen sind Relikte aus der Tabakfabrik-Ära. So gut wie jeden Tag finden Veranstaltungen auf dem Gelände statt - vom Social-Media-Workshop bis hin zur Tattoo-Messe oder der "Fuckup Night", bei der Gründer über das Scheitern sprechen. "Wir brauchen hier ganz verschiedene Persönlichkeiten", sagt Müller, "Idealisten ebenso wie Desillusionierte oder Unruhestifter."

Ein kritischer Geist ist mit dem Linzer Karikaturisten Gerhard Haderer in die Tabakfabrik eingezogen. 2017 eröffnete er hier seine "Schule des Ungehorsams", die Denk- und Diskussionsschule sowie Kunstgalerie in einem ist. Was den 68-Jährigen antreibt, beschreibt er so: "Provokation um der Provokation willen ist langweilig. Es bedarf, mit poetischen Worten, einer Schule, die den Lärm zur Musik macht." Die Schau "Ölhades" präsentiert großformatige Ölgemälde des Künstlers, außerdem organisieren der Meister der gezeichneten Satire und seine Familie hier Vernissagen, Lesungen, Musikabende, Podiumsdiskussionen oder Workshops. Damit wollen sie die Bürger dazu einladen, Verantwortung zu übernehmen und "Ungehorsam positiv zu denken", wie es Haderer ausdrückt. Das heißt: mit Humor. Bei diesem Projekt geht es einmal mehr um Experimentierfreude und um Partizipation. Die beiden Hauptzutaten für das lebendige Linzer Kulturleben.

Mit der Bahn kann man mehrmals täglich ohne Umsteigen in knapp drei Stunden von München nach Linz reisen. Nähere Informationen zur Stahlwelt sowie zum Zeitgeschichtemuseum unter: www.voestalpine.com/stahlwelt/, zum Ars Electronica Center unter https://ars.electronica.art, zur Tabakfabrik sowie zur Schule des Ungehorsams: https://tabakfabrik-linz.at, www.schuledesungehorsams.at, zum Festival Höhenrausch unter www.hoehenrausch.at

Hinweis

Die Recherchereise für diesen Beitrag wurde zum Teil unterstützt von Veranstaltern, Hotels, Fluglinien und/oder Tourismus-Agenturen.

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Quelle:
SZ vom 14.11.2019/ihe
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