Süddeutsche Zeitung

Reisen dank Literatur:Bolognas Geheimnis auf Papier

Ein Urlaub in Bologna ist physisch noch nicht möglich, in Gedanken aber durchaus. Unsere Autorin hat sich mit einem Buch in die magische Stadt begeben.

Von Johanna Adorján

Vor ein paar Tagen war ich zum ersten Mal in Bologna. John Bergers Essay "The Red Tenda of Bologna" brachte mich hin. Er ist in dieser wunderschönen kleinen "Penguin Modern"-Reihe erschienen, in der es für so gut wie kein Geld (1,50 Euro) kurze Texte berühmter Schriftsteller im Miniformat gibt, und fand sich, bislang ungelesen, in meinem Buchregal. Der Text scheint zu schweben, so sanft und poetisch ist er geschrieben.

Es ist eine Liebeserklärung des Autors an seinen verstorbenen Onkel Edward, den älteren Bruder seines Vaters, der zwei Leidenschaften hatte: das Briefeschreiben und das Reisen. Er war alleinstehend und hatte es im Leben zu nichts gebracht, das gemeinhin als Erfolg gewertet wird, doch dafür hatte er zum Beispiel die Gabe, seinem Neffen die tollsten Geschenke zu machen. Sie waren klein und materiell wertlos, aber immer lag das Versprechen darin, dass die Welt ein wunderschönes großes Abenteuer war, das nur darauf wartete, entdeckt zu werden. Ob das eine Landkarte von Island war, eine Motorradbrille oder eine Streichholzschachtel voll Sand aus Ägypten.

Sein Onkel war es auch, der ihm von Bologna erzählte und von diesem Rot, das es nur dort gäbe und zwar überall, auf den Dächern, den Ziegeln, den Markisen. Ach, wenn man doch nur hinter das Geheimnis dieses Rots käme, hatte er gesagt.

Es gibt schlechtere Aufträge. Nach dem Tod seines Onkels reist John Berger also nach Bologna. Es ist tatsächlich ein ungewöhnliches Rot, stellt er fest, weder Lehmrot, noch Terrakotta, sondern wie ein roter Farbstoff. In einem kleinen Laden ersteht er, ohne recht zu wissen, warum, ein paar Meter des roten Leinenstoffs, aus dem all die vielen Sonnensegel der Stadt sind. Plötzlich glaubt er, im Verkäufer seinen Onkel zu erkennen. Er zahlt schnell und geht, ohne ein Wort zu sagen, und gibt sich dann auf der Piazza Maggiore, den Kopf auf den Stoff gebettet, auf den Stufen einer Kirche seinen Erinnerungen hin.

Wo ich schon mal da war, habe ich mich in dieser magischen Stadt, in der die Vergangenheit so lebendig ist, dass selbst Tote darin ganz normal ihrer Arbeit nachgehen, ein bisschen umgesehen. Wussten Sie zum Beispiel, dass die Basilika San Petronio, auf deren Stufen ich John Berger zurückließ, die zu Baubeginn 1390 als größte Kirche der Christenheit geplant war, aufgrund finanzieller Probleme bis heute nicht fertiggestellt ist? Da hätte eigentlich auch in der oberen Hälfte noch eine Marmorverkleidung hingesollt, die aber nie kam.

So thront sie nun seit sechs Jahrhunderten unvollendet an diesem Platz, der von lauter wichtigen Gebäuden wie Palästen und dem Rathaus umstellt ist. Nördlich verläuft die Via Rizzoli. Von dort bog am 31. Oktober 1926 bei einer Parade der Wagen von Benito Mussolini auf den Platz, als ein 15-jähriger Anarchist auf ihn schoss. Mussolini überlebte, weil ein Kavallerieoffizier die Flugbahn der Kugel abfälschen konnte. Es war der Vater des damals vierjährigen Pier Paolo Pasolini, was mal wieder zeigt, wie klein die Welt ist - und wie groß Bologna.

Überquert man die Via Rizzoli und schlängelt sich am Apple Store vorbei durch kleine Gassen in nördlicher Richtung, gelangt man nach etwa zehn Minuten zu einer Stelle, wo noch einer der Kanäle zu sehen ist, die im Mittelalter die ganze Stadt durchzogen. Heute verlaufen sie nur noch an wenigen Stelle oberirdisch, da sieht Bologna auf einmal wie Venedig aus.

Am tollsten aber fand ich die Türme. Im Mittelalter gab es in der Stadt geschätzt 180 sogenannte Geschlechtertürme, man kann sagen: Hochhäuser. Zwanzig stehen noch, darunter die zwei berühmten schiefen Türme von Bologna, von denen der höhere, der Torre Asinelli, mit seinen 97,2 Metern den ersten Wolkenkratzer New Yorks, das Flatiron Building, um einige Meter überragt. Sie wurden von wohlhabenden Familien erbaut und hatten möglicherweise mehr als repräsentative Zwecke, dienten auch Angriff und Verteidigung. Jedenfalls war Bologna im Mittelalter eine wichtige und reiche Hochhausmetropole, in der circa 1088, als es in München noch nicht mal einen urkundlich erfassten Marktplatz gegeben hat und in Berlin sowieso nichts als Sand, die erste Universität Europas gegründet wurde, vielleicht sogar der Welt.

Hier haben Kopernikus (Jura), Dürer (Kunst), Paracelsus (Medizin) studiert, die Filmemacher Pasolini (Literatur) und Antonioni (Volkswirtschaftslehre), sogar der italienische Modemacher Giorgio Armani war zwei Jahre lang an der Universität von Bologna als Medizinstudent eingeschrieben. Extra nachgeguckt, leider hat Gianna Nannini zwar in Bologna ihr Abitur gemacht, nicht aber dort studiert, dafür aber Laura Bassi, die nach ihrem Philosophiestudium in Bologna ebendort sogar die erste Universitätsprofessorin Europas wurde, 1732 war das.

Und jetzt mal abgesehen davon, dass wir ohne Maurizio Cazzati, der von 1657 an als Kapellmeister in der Basilika San Petronio die Entwicklung von der geistlichen hin zur Instrumental-Musik vorantrieb, womöglich nie in den Genuss eines Solokonzerts gekommen wären, sei spätestens an dieser Stelle die österreichische Band Wanda erwähnt, deren 2014 veröffentlichter Song "Bologna" ein genialer Popsong ist, hymnisch und rätselhaft zugleich. Darin überlegt das lyrische Ich, ob es mit seiner Cousine schlafen soll und erwähnt eine Tante, die in Bologna einmal Sex hatte.

Ob es sich bei dieser Tante um die Mutter besagter Cousine handelt, die demnach in Bologna entstanden sein könnte, womöglich Tochter eines Bürgers dieser Stadt, wird bis zuletzt nicht aufgeklärt. Dafür bekommt der Hörer eine klare Handlungsanweisung: Wenn ihn jemand frage, wohin er gehe, so sage er: "Nach Bologna!" Und als Rainald Goetz 2015 den Büchner-Preis bekam, beschloss er seine Dankesrede mit dem zweiten Teil dieses Refrains: "Wenn jemand fragt, wofür du stehst", sang er, und leichte Rührung lag in seiner Stimme, "sag' für Amore, Amore."

Und wo wir bei Liebe sind: Einige der bekanntesten Nudelspezialitäten wurden in Bologna erfunden. Und Mortadella, diese fettige hellrosa Wurstspezialität, die John Berger zufolge nicht nur in hauchdünnen Scheiben gegessen werden sollte, sondern, wenn sie von richtig guter Qualität ist, am Stück.

Man kann reisen ohne zu reisen, das habe ich dank John Bergers Onkel Edward entdeckt. Und ohne die Krise als Chance sehen zu wollen, hat es etwas, dazu gezwungen zu sein, sich nicht direkt dem ersten Impuls folgend ein Wochenende in Bologna zu buchen, sondern erst mal zu lesen, zu lernen, zu imaginieren. Mit meinem Wissen von jetzt kann ich mir kaum ein schöneres Reiseziel vorstellen als Bologna. Vielleicht fahre ich extra nie hin.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4912311
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 20.05.2020/ihe
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.