Süddeutsche Zeitung

Stadthistorie:Süß statt bitter

Die Geschichte der Stadt an der Adria ist eng verbunden mit der Salzgewinnung. Dieses Erbe prägt Cervia bis heute - in der Küche, in seinen Festen und in seinen Traditionen. Davon profitiert auch der Tourismus.

Von Ingrid Brunner

Im Mai blühen in den Salinen von Cervia die Tamarisken. Die Uferränder der Verdunstungsbecken und der Kanäle säumt ein zartes weiß-rosa Band, fast wie Brautschleier. Ihr reiches Vorkommen erzählt bereits etwas über die Besonderheit der Region, denn Tamarisken gedeihen auch auf salzigen, sogar sehr salzigen Böden. Alophil, salzliebend, heißen diese Gewächse, auch der Queller wächst hier, eine essbare Pflanze, auch sie liebt es salzig. Ebenso wie Schwärme von rosa Flamingos, die sich in den Salinen von kleinen Krebstieren ernähren, deren rosa Schalen die grazilen Vögel ihre Farbe verdanken. Und geschätzten 100 000 Wasservögeln, die in dem 827 Hektar großen Feuchtgebiet einen Lebensraum finden.

Nicht nur Pflanzen und Tiere, auch die Menschen leben von jeher vom und mit dem Salz. Das heutige Cervia ist aus dem Salz geboren. Wegen des einst wertvollen Rohstoffs war die Stadt umkämpft, war Zankapfel zwischen Venedig, dem Kirchen- und dem Nationalstaat. Das heutige, neue Cervia wurde 1698 von Papst Innozenz XII. im Rechteck erbaut - auf dem Reißbrett geplant vom römischen Baumeister Bellardio Preti im Renaissance-Stil. Das innere Stadtkarree umschloss 48 Häuser für 150 Salzarbeiter-Familien, eine Kaserne, ein Krankenhaus, ein Schlachthaus, ein Theater. Eine Festung, eigens erbaut zur Salzgewinnung. Seit 1440 lieferte Cervia sein Salz an den Vatikan. Diese Tradition endete erst 1870, mit der Einigung Italiens. Aber noch heute heißt das erste, zu Beginn der Saison gewonnene Salz, Sale del Papa. Eine Rarität, ebenso wie das Salfiore, das auf der Wasseroberfläche schwimmt und von Hand geerntet wird.

Oscar Turroni weiß so ziemlich alles über die traditionelle wie die industrielle Salzgewinnung, und was das süße Salz von Cervia, das Sale Dolce, so besonders macht. "Unser Salz ist sehr rein, es enthält kaum Beimischungen von Magnesiumsulfat und Kaliumchlorid, das macht es milder als andere Salze", sagt er. Denn diese Mineralien sorgten für Bitternoten: Das Gegenteil von bitter sei süß, erklärt er, daher der Begriff süßes Salz. Turroni hat 25 Jahre in Cervias moderner Saline gearbeitet, um nach seiner Pensionierung quasi auf die andere Seite zu wechseln: zur Camillone-Saline, wo immer noch auf traditionelle Weise Salz geerntet wird. Das ist auch schon wieder zwanzig Jahre her. Der heute 71-Jährige hatte Glück, schon mit 51 Jahren in Rente gehen zu können. Seither arbeitet er als ehrenamtlicher Salzbauer im Verein Civiltà Salinara. Früher gab es 150 solch kleiner Anlagen, bis 1959 alles in der großen Fabrik gleich über der Straße aufging. Turroni deutet hinüber zu dem eingezäunten Werksgelände, aus dem zwei riesige weiße Salzberge ragen. Die kleine Camillone-Saline ist ein Freilandmuseum, es wird betrieben, um die Tradition der Salzgewinnung zu pflegen. Im April, Mai beginne die Arbeit, erzählt Turroni. Dann bereiten er und andere Helfer die Becken vor. Der Kanal bringt das Wasser vom Meer. "Das Seewasser kommt mit drei Prozent Salzgehalt, es soll auf 26 Prozent verdunsten."

Ist es so weit, sammeln Oscar und seine Freunde mit Holzrechen die zwei Zentimeter dicke Salzkruste in Holzbottichen. Bis zum Herbst wird alle fünf Tage geerntet. Die Besucher sehen kleine Strohunterstände, in denen sich die Arbeiter früher ausgeruht hatten. Die Salzernte in sengender Hitze war harte Arbeit, auch Frauen haben in den Salinen gearbeitet. Männer wie Frauen standen barfuß im Salzwasser und im Schlamm, der vom Podelta kommt. "Das macht schöne Beine", sagt Oscar und lacht, "wenn man sagte, jemand hat Cervia-Beine, war das ein Kompliment". Aber: Man darf keinen noch so winzigen Kratzer an Armen und Beinen haben, sonst brennt das höllisch. Kleine Wachhäuschen erinnern daran, dass früher Zöllner auf der Saline das staatliche Salzmonopol kontrollierten, damit nichts vom "weißen Gold" aus den Salinen herausgeschmuggelt wurde. Die gänzlich per Hand geerntete Riserva Camillone, ein Slow-Food-Produkt, ist heute ungefähr so wertvoll wie andernorts ein prämiertes Olivenöl oder ein traditionell hergestellter Aceto Balsamico.

Waren früher die schönen Beine eher ein Nebeneffekt, so können die Besucher heute in die Therme gehen, sich Salinenfango auf die Haut packen lassen, oder in zehn Becken mit unterschiedlicher Solekonzentration baden, Wassertreten, ein Salzpeeling machen. All das soll Hautleiden, Gelenks- und Atemwegserkrankungen lindern. Die meisten Urlauber trifft man in Cervia, das aus den Ortsteilen Cervia, Milano Marittima, Pinarella und Tagliata besteht, aber in einem der mehr als 150 kleinen Strandbäder - beim Baden, beim Spaziergang am neun Kilometer langen Strand, beim Sandburgen bauen oder Beachvolleyball spielen.

Dabei lohnt es sich, das Hinterland zu erkunden. Ein gut ausgebautes Radwegenetz führt durch ausgedehnte schattige Pinienwälder, an den Kanälen entlang zu den Salinen. Sie sind Teil des 1979 gegründeten Naturparks Po-Delta. An die hundert Vogelarten zählen Ornithologen im Feuchtgebiet, darunter Stelzenläufer, Sabelschnäbler, Seeregenpfeifer und Zwergseeschwalben. Die Kanäle lassen sich auch mit dem Kanu befahren.

Wenn abends die Bademeister Tausende Liegestühle und Sonnenschirme am Strand zusammenklappen und den feinkörnigen Sand harken, trifft man Oscar Turroni im Salzmuseum MuSa, dem ehemaligen Salzlager am Kanalhafen. 130 000 Tonnen Salz fanden einst in dem riesigen Backsteinbau Platz, das heute noch in den Backsteinritzen steckt. Turroni erklärt den Besuchern unermüdlich die Geschichte der Stadt und des Salzes.

Nur wenige Schritte entfernt, am Kanal, verabredet man sich zum Aperitif und zum Flanieren. An der kleinen Uferpromenade unweit vom Fischmarkt drängt sich eine winzige Bar an die andere. Bei einem Amaro oder einem Glas Wein sieht man zu, wie der Himmel allmählicher immer röter wird. Dazu nascht man Oliven, Nüsse und Gebäck - natürlich gesalzen.

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Quelle:
SZ vom 23.05.2019
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