Es gibt auf Spitzbergen keine Einheimischen, kein angestammtes Volk, das die Inselgruppe seit Jahrhunderten besiedeln würde. Menschen haben sich auf dem Archipel, von dessen nördlichem Ende aus es bloß noch rund tausend Kilometer bis an den Nordpol sind, erst niedergelassen, nachdem der niederländische Seefahrer Willem Barents die Inselgruppe vor reichlich vierhundert Jahren auf der Suche nach der Nordostpassage entdeckt hatte. Und die wenigsten von ihnen blieben dauerhaft.
Viele waren es nie, die dort lebten, zu entlegen ist Spitzbergen und auch zu unwirtlich, ungeachtet des Golfstroms, der trotz dieser nördlichen Breiten ein vergleichsweise mildes Klima bewirkt. Aber eben nur vergleichsweise. Im Sommer wird es um die fünf Grad warm, meistens herrschen Minustemperaturen. Die geografische wie zivilisatorische Randlage bedeutet aber nicht, dass Svalbard, so der norwegische Name Spitzbergens, seit der Entdeckung durch Barents weiterhin eine eintönige Existenz führen würde. Der von Norwegen verwaltete Archipel ist vielmehr extrem unstet seither. Immer wieder erfüllt er neue Funktionen für eine internationale Gemeinschaft, die sich die Inseln zunutze macht.
Rund 2500 Menschen aus etwa 50 Nationen leben aktuell hier, es gibt sogar eine thailändische Community, im Schnitt tauscht sich jedes Jahr knapp ein Fünftel der Bevölkerung aus. Die wenigsten bleiben mehr als ein paar Jahre in einer der wenigen Siedlungen, in Longyearbyen, Barentsburg oder Ny-Ålesund also. Den Bergbauort Pyramiden haben die russischen Bewohner vor reichlich zwanzig Jahren aufgegeben, als der Bergbau dort eingestellt worden ist.
Anfangs kamen Walfänger nach Spitzbergen, ihnen folgten Jäger und Fallensteller, die nicht den Meeres-, sondern den Landtieren nachgestellt haben. Irgendwann wurden die Kohlevorkommen entdeckt und ausgebeutet. Bis heute sind vereinzelte Minen aktiv, sie sind aber kaum noch rentabel. Spitzbergen war auch nicht entlegen genug, um im Zweiten Weltkrieg von der deutschen Wehrmacht verschont zu bleiben. Lange Zeit war Spitzbergen beinahe ausschließlich eine Männergesellschaft.
Auf jeden Bewohner kommen inzwischen drei Dutzend Touristen
Die wirtschaftliche Gegenwart und Zukunft Spitzbergens liegt inzwischen in den Forschungsstationen, die dort eingerichtet worden sind - und im Tourismus. Bis zu 80 000 Besucher sind vor der Pandemie jährlich nach Spitzbergen gekommen, die meisten von ihnen während einer Kreuzfahrt. Zu den regelmäßigen Besuchern gehörte in den vergangenen vier Jahren auch der Fotograf Paolo Verzone, der bereits drei Mal den World Press Photo Award gewonnen hat, der dieser Tage wieder vergeben wird. Fünf Mal war er in dieser Zeit insgesamt auf Spitzbergen, stets für längere Zeit, um vor allem die Hauptinsel mit der Kamera zu porträtieren.
Kategorisch ausgeblendet hat Verzone die Tierwelt. Sie sei hinreichend dokumentiert, befindet er - jeder Besucher versucht schließlich, sein Eisbärenbild zu machen. Und wenn das nicht klappt, wenigstens einen Polarfuchs oder Papageientaucher vor die Linse zu bekommen. Oder zumindest ein paar der vielen Möwenarten. Es geht dem italienischen Fotografen um die menschliche Existenz in dieser lebensfeindlichen Umgebung - und damit auch um diese schroffe, bizarre und faszinierende Naturkulisse.
Verzone hat Besatzungsmitglieder des Eisbrechers Svalbard fotografiert, den Pastor Leif Magne Helgesen, den Glaziologen Jean-Charles Gallet, Moritz Sieber von der norwegischen Kartografiebehörde, Nikolai Walentinowitsch Abramow, Lehrer an der russischen Schule in Barentsburg, und viele mehr. Meistens an ihrem Arbeitsplatz. Dazwischen Stillleben von Gebäuden und Landschaften. Die Bilder vermitteln, was einen auf Spitzbergen erwartet, wenn man länger bleibt als nur für einen Kreuzfahrtstopp.
Paolo Verzone : Spitzbergen. Mare-Verlag, Hamburg 2022. 132 Seiten, 58 Euro.