Spannagelhaus im Zillertal:Berghütte mit Zwölf-Kilometer-Keller

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Das verschachtelte Spannagelhaus am Hintertuxer Gletscher im Zillertal hat einen recht eigenwilligen Charme. Wer seinen wahren Wert erkennen möchte, muss tief blicken: Unter dem Gebäude beginnt eine riesige Höhle.

Dominik Prantl

Am Nachbartisch bestellt sich die gut gelaunte Skifahrerhorde aus dem hohen Norden gerade wieder einige Stamperl Williams Birne. Es ist die zweite oder dritte Runde, als auch Hüttenwirt Christoph Anfang ganz ohne alkoholischen Gesprächsbeschleuniger langsam auftaut. Es gebe da einige Bilder, die er gerne zeigen würde.

Die Tafel "Naturdenkmal" bezieht sich nicht auf das Spannagelhaus, sondern auf das Höhlensystem, dessen Eingang direkt hinter dem Haus liegt. (Foto: Prantl)

Deshalb verschwindet Anfang kurz, kehrt mit der hiesigen Nostalgiker-Pflichtlektüre "Zillertaler Album. Bilder und Notizen aus der Zeit vor 100 Jahren" und seinem persönlichen Nostalgie-Bilderrahmen wieder. Eine Aufnahme aus dem Buch zeigt die Ausmaße des Gletschers zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Als kreisförmiger Eiskoloss schiebt sich die Gletscherzunge des Hintertuxer Ferners bis weit unterhalb des Spannagelhauses.

Noch wichtiger ist Anfang ein kleines Foto im Bilderrahmen in Achtziger-Jahre-Optik; vor allem der Mann, der einen Klotz Schnee in einen gewaltigen Kochtopf presst. Anfang sagt: "Das ist mein verstorbener Onkel. Der musste für das Teewasser manchmal noch Schnee schmelzen."

Der Gletscher reicht heute kaum mehr bis auf Höhe des Hauses, das längst nicht nur eine eigene Wasserleitung hat. Es ist auch an die Gletscherbahnen des Hintertuxer Skizirkus' angeschlossen, die den Gast in Windeseile auf 2600 Meter bringen. Von dort sind es wenige Höhenmeter hinab zum Spannagelhaus des Österreichischen Touristenklubs (ÖTK), Österreichs zweitältestem alpinen Verein. Rein äußerlich gibt es wahrlich reizvollere alpine Refugien als das Spannagelhaus.

Anbauten und Reparaturen haben es in ein Gebäude-Konglomerat aus Holzschuppen, Nebengebäude und schindelgedecktem Haupthaus verwandelt. Auch drinnen hat der vieleckige Kasten einen eigenwillige Charme. Der Eingangsbereich ist unübersichtlich verwinkelt, zu den Matratzenlagern und den vier Fünfbett-Zimmer führt eine gekachelte Treppe.

Aber um die Bedeutung der Unterkunft zu erschließen, braucht man etwas anderes als Seilbahnen, Rohre, Treppen: ein bisschen Zeit. Erst wer tiefer blickt, erkennt gewissermaßen die inneren Werte dieser alpinen Herberge. Direkt unter dem Haus beginnt ein Höhlensystem von zwölf Kilometern Länge.

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Schon 1885 entstand auf der Erhöhung zwischen zwei Eisströmen die erste Unterkunft. Der Bau trug damals noch den Namen Wery-Hütte, erst das Nachfolgermodell 1908 geriet zur Hommage an den ehemaligen ÖTK-Präsidenten Rudolf Spannagel. So wurde die Zivilisation fleißig in die Höhen getragen, für die Höhle gleich hinter dem Haus schien sich allerdings kaum ein Mensch so recht zu interessieren.

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Jedenfalls stammen die ersten dokumentierten Erkundungen erst aus dem Jahr 1919, als ein gewisser Alois Hutter der Höhle öfter einen Besuch abstattete. Noch 1960 waren gerade einmal 320 Meter vermessen, und obwohl das Höhlensystem 1964 zum Naturdenkmal erklärte wurde, diente es lange Zeit als Müllhalde für Hüttenabfälle.

Christoph Anfangs Onkel Josef Klausner begann schließlich, in der Höhle aufzuräumen. Er finanzierte 1994 den Ausbau eines kleinen, problemlos begehbaren Abschnitts zur sogenannten Schauhöhle. Im Tal wird heute mit dem Spruch geworben: "In der Spannagelhöhle ist immer schönes Wetter." Der junge Christoph verbrachte dort wie sein Bruder Josef einen guten Teil seiner Kindheit.

Das Innere des Berges hatte es beiden irgendwann derart angetan, dass sie sich zu staatlich geprüften Höhlenführern ausbilden ließen. Christoph Anfang, Hüttenwirt seit 2003, sagt den gar nicht doppeldeutig gemeinten Satz: "Man wächst da mit der Zeit einfach hinein." Er kennt die Höhle wie kein Zweiter.

Karbidlampe und Tropfsteine sind eher sein Metier als die Schnapsrunden fünf und sechs. Kaum tauscht er Küchenschürze mit Helm und Höhlenjacke, fängt er an zu erzählen. Wie sich das Gestein vor vielen Millionen Jahren schichtete und eine 25 Meter dicke Marmorader im harten Gneis der Zentralalpen hinterließ. Wie enorme Bäche im Laufe der Jahrmillionen sich ihren Weg durch diesen Marmor bahnten, immer wieder, letztmals vor etwa 400.000 Jahren.

Als Zeugnis ihrer Kraft hinterließen sie unzählige Gletschermühlen, brunnenartige Vertiefungen, mit deren Wasser die Hütte über mehrere hundert Meter lange Wasserleitungen versorgt wurde. Und er redet darüber, was für ein einzigartiges Klima in der Höhle herrscht. Die Luftfeuchtigkeit beträgt weit über 90 Prozent. Die Temperatur liegt bei etwa zwei Grad, egal zu welcher Jahreszeit, und erzeugt einen konstanten Luftzug.

Der Weg durch die Schauhöhle führt in schmalere und breitere Gänge mit vielsagenden Namen wie "Dünndarm", "Dickdarm" oder "Bauch- und Busenquetsche".

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Unweit des Höhleneingangs steht in einer Vertiefung ein Fass Branntwein. "Leider leer", behauptet Anfang. Zehn Meter weiter liegt hinter einem Schutzgitter ein riesiger Laib Höhlenkäse. "Der erhält hier seinen einzigartigen, erdigen Geschmack", sagt Anfang, der den Käse wenige Meter darüber im Spannagelhaus verkauft. Er habe deshalb, gut abgeschottet, noch 20 weitere Laibe in einem Seitengang deponiert. An Platz mangelt es im Riesenkeller nicht.

Wer möchte, kann während eines mehrstündigen Höhlentrekkings den Pistenrummel weit hinter sich lassen und einen noch tieferen Einblick erhalten. Dort wachsen Tropfsteine, die im Bereich der Schauhöhle noch fehlen. Schon nach wenigen Metern herrscht ohne künstliches Licht die absolute Finsternis. Der Weg führt über Leitern, klettersteigähnliche Passagen und sogar eine Behelfsseilbahn. Über eine Schlucht geht es dann hinein in die früher von Forschern zum Biwakieren genutzte Schäferhalle. Es ist kein Ort für Klaustrophobiker.

Doch selbst beim Höhlentrekking wird nur ein Bruchteil des riesigen Systems besucht, können die Ausmaße nur erahnt werden. Die restlichen zehn bislang erkundeten Kilometer, die sich von Höhe des Spannagelhauses bis auf 2100 Meter hinab erstrecken, sind nur Höhlenprofis vorbehalten. Dabei ist das Ausmaß des gesamten Labyrinths nicht einmal erfasst.

Mit dem bisher erforschten Teil ist Hüttenwirt Anfang allerdings vertraut. Er kennt auch die Kreaturen der Dunkelheit. Kleinste Insekten leben hier, auch Spinnen, Fledermäuse und manchmal sogar unerwartete Wintergäste. Eines Tages mühte sich Anfang allein durch das Innere der Höhle, als ihn zwei Augen anleuchteten. "Da denkst du, gleich begegnet dir der Satan persönlich." War aber nicht Satan. War nur ein Wiesel.

An der Oberfläche hat die immer besser gelaunte Williams-Gemeinde derweil noch die ein oder andere Runde eingelegt. Ihre Augen leuchten, und Anfang bindet sich wieder die Schürze um.

Informationen

Anreise: Mit dem Auto über die Inntalautobahn und das Zillertal bis nach Hintertux. Unterkunft: Spannagelhaus ÖTK, Hintertux 799, 6294 Hintertux, Österreich, Tel.: 0043/52 87/87 251, 0043/66 45/15 82 73, spannagelhaus.at

Führungen: Die Besichtigung der Schauhöhle kostet für Erwachsene 11 Euro, für Kinder (6 bis 15 Jahre) 5,50 Euro. Das halbtägige Höhlentrekking findet auf Voranmeldung statt, pro Person (ab 14 Jahre) 85 bis 95 Euro.

Gletscherskigebiet: Tel.: 0043/5287/85 10, hintertuxergletscher.at

© SZ vom 01.12.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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