Skimarathon in der Schweiz:Wie es am besten läuft

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Der 69-jährige Ueli Lamm ist Mitglied eines exklusiven Clubs: Seit 1969 hat er kein Rennen verpasst. (Foto: Schweikle)

Anfang März wagen Tausende Langläufer den offiziell 50. Engadiner Skimarathon. Ueli Lamm ist einer der wenigen, die seit 1969 jedes Jahr ins Ziel gekommen sind. Besuch bei einem Leidgenossen.

Von Johannes Schweikle

Den schlimmsten Sturz hatte Ueli Lamm eine halbe Stunde vor dem Start. Er stand in Maloja, knapp 1800 Meter über Meereshöhe. Um sich vor der Kälte des frühen Wintermorgens zu schützen, trank er in einem Gasthaus etwas Heißes. Ein paar Stufen führten zurück ins Freie, auf den glatten Sohlen seiner Langlaufschuhe rutschte er aus und fiel so ungünstig, dass an der rechten Schulter eine Sehne riss. Glücklicherweise blieb der linke Arm unbeschädigt, der Stockeinsatz sollte funktionieren. Also schnallte Ueli Lamm die Ski an und quälte sich im wörtlichen Sinn mit links durch den Marathon, nach fünf Stunden und acht Minuten war er am Ziel.

Heute sagt er: "Es wär schon schade gewesen, wenn ich nach mehr als 30 Marathons einen ausgelassen hätte."

Am 11. März findet der Engadiner Skimarathon zum offiziell 50. Mal statt. 14 200 Läufer werden in Maloja, 15 Kilometer südwestlich von St. Moritz, an den Start gehen. Lamm wird dabei sein, als Mitglied eines exklusiven Klubs: Nur sechs Männer haben bislang jedes Mal das Ziel erreicht.

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Lamm ist 69 Jahre alt und hat die Figur eines Skistocks, der sehnige Mann ist lang und dünn. Mit melancholischen Augen schaut er aus einem wintergebräunten Gesicht. Dreimal in der Woche trainiert er, jedes Mal zehn Kilometer. In den Loipen des Oberengadins ist er gut zu erkennen: Beim Skifahren trägt er traditionelle Knickerbocker und weiße Kniestrümpfe. "Damit fühle ich mich wohl", sagt er.

Wer keinen Platz mehr beim traditionell früh ausgebuchten Marathon bekommt, kann die Strecke auch ganz gemütlich an anderen Tagen unter die Langlaufskier nehmen. Sie beginnt topfeben: Es geht fünf Kilometer über das verschneite Eis des Silsersees. Bald sind die Häuser von Sils Maria zu sehen. Rechts ragt das Waldhaus in den Himmel, ein Palasthotel aus der Belle Époque mit einem zinnenbewehrten Turm. Welche Bedeutung der größte Volkslanglauf der Alpen hat, zeigt sich auch dort: Im Skikeller sind zwei Wachstische mit Bügeleisen aufgebaut. Am Marathonsonntag hängt in der hohen Halle eine Tafel, die allen Gästen Glück wünscht, die sich an den Start wagen. Für einen Hobbyläufer ist es ein erhebendes Gefühl, den eigenen Namen direkt neben dem eines Olympiasiegers aus Norwegen geschrieben zu sehen.

Flach geht es weiter über den See von Silvaplana. Hier entstehen die beeindruckenden Bilder des Engadiner Skimarathons: Eine bunte Schlange wimmelt durch die weiße Weite des Hochtals. "Als ich noch auf Zeit gelaufen bin, hab ich versucht, mich hier in eine gute Position zu bringen", erklärt Ueli Lamm seine Taktik. Bei Kilometer 13 kommt ein gemeiner Anstieg, es geht hoch zur olympischen Sprungschanze von St. Moritz. "Alle grätschen, manche sind so ehrgeizig, dass sie drängeln. Immer rutscht einer aus, der kommt einem dann zwischen die Beine." Regelmäßig brechen hier Skistöcke, im hinteren Teil des Feldes kommt es zum Stau. Seine persönliche Bestzeit hat Lamm 1989 aufgestellt, auf einer topografisch noch etwas einfacheren Strecke: 2:02 Stunden. Zum Vergleich: Der französische Weltklasseläufer Hervé Balland hält den Rekord in 1:16 Stunden.

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(Foto: Steffen Schmidt/AP)

Ameisenstraße aus Langläufern: Auf dem Eis der Seen entstehen beim Engadiner Skimarathon die besten Bilder.

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(Foto: Steffen Schmidt/AP)

Hier drängeln und grätschen die ambitionierten Langläufer, um sich in eine möglichst gute Position zu bringen.

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(Foto: Gian Ehrenzeller/AP)

Etwa 13 000 Teilnehmer gehen jedes Jahr an den Start, für das Jubiläumsjahr 2018 werden mehr als 14 000 erwartet.

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(Foto: Andy Mettler/swiss-image.ch)

Wer keine Lust auf das Gedränge hat, der kann die Marathonstrecke auch an anderen Tagen in Ruhe abfahren.

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(Foto: Arno Balzarini/dpa)

Seit 2000 findet eine Woche vor dem Hauptlauf ein Frauenrennen statt.

Ueli Lamm ist in St. Moritz aufgewachsen und in Zuoz zur Schule gegangen. Im Winter hat er die 22 Kilometer manchmal auf Skiern zurückgelegt. "Aber damals war noch nicht gespurt. Das Loipennetz hat sich erst mit dem Skimarathon entwickelt", sagt er. Beim ersten Rennen gingen 945 Läufer an den Start. Alle mussten ein ärztliches Gesundheitszeugnis vorlegen. Auch Ueli Lamm, obwohl er eine Wettkampflizenz als Langläufer besaß. Über seine Karriere spricht er mit selbstironischer Bescheidenheit: "Ein paar Feld-Wald-Wiesenrennen hab ich gewonnen - weil die guten Läufer woanders am Start waren."

Sein Bruder besorgte in Norwegen Langlaufski aus Birkenholz - so etwas Gutes gab es in der Schweiz nicht zu kaufen. Mitte der Siebzigerjahre kamen die Kunststoffski, in den Achtzigern stieg Lamm wie alle ambitionierten Läufer um auf die revolutionären Skatingski, mit denen man in einen Geschwindigkeitsrausch gleiten kann. Zu Beginn des neuen Jahrtausends musste er sich beide Hüften operieren lassen. Seither läuft er wieder klassisch - weil diese harmonische Technik die Gelenke weniger belastet als der Schlittschuhschritt.

Hinter St. Moritz kommt die Schlüsselstelle des Marathons: der berüchtigte Stazerwald. Lamm nimmt die Steigung im eleganten Diagonalschritt, der Ski gleitet und greift. Der Wald tut sich auf, ein kleiner See gleißt in der Sonne, es folgt die gefürchtete Abfahrt. Es wird eng, die Bäume am Streckenrand sind mit orangefarbenen Matten gepolstert, beim Rennen bekommen die Zuschauer hier verlässlich Stürze zu sehen.

Normalerweise bewältigt Lamm diese Abfahrt ohne Probleme. "Aber beim Rennen ist sie der Horror", findet er: "in der Mitte eisig abgefahren, an den Rändern Haufen von weichem Schnee, in dem man leicht hängen bleibt." Beim Marathon fährt er hier langsam und vorsichtig, weil ein Sturz aus dem Rhythmus bringt. Bislang ist er immer heil hinuntergekommen nach Pontresina. Dort ist die Hälfte geschafft.

Der Engadiner Skimarathon ist zu einer Institution im Wintersport geworden - weil die Veranstalter ihn ständig weiterentwickelt haben. 2008 haben sie den Halbmarathon eingeführt, um ihr Rennen auch für die Jugend zu öffnen. Schon vorher gab es eine weitere Neuerung: Weil viele Frauen zurückzuckten vor dem Gerangel, wird seit 2000 ein eigener Frauenlauf angeboten. Er findet eine Woche vor dem Marathon statt und ist 17 Kilometer lang.

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"In der Marathonwoche herrscht eine besondere Stimmung im Hotel", sagt Marc Eichenberger, "dann wird in unserem Grand Restaurant über Skiwachs geredet." Er ist Direktor des Traditionshotels Kronenhof in Pontresina. Vergangenes Jahr nahmen zwei Dutzend Stammgäste am Rennen teil. Einer buchte in der Nacht vor dem Marathon noch ein zweites Zimmer, im Maloja Palace, um nicht in der Kälte frieren zu müssen, sondern direkt vom Hotel an den Start gehen zu können. Eichenberger nimmt auch teil, er sagt: "Ohne den Marathon würde ich es nicht schaffen, regelmäßig zu trainieren. Aber so habe ich den Ansporn, am zweiten Sonntag im März die 42 Kilometer zu schaffen."

Seine Gäste bekommen an diesem Tag schon ab 5.30 Uhr Frühstück, es gibt Pasta und einen Shuttleservice zum Start. "Beim Rennen spiele ich den Lumpensammler", sagt der Hoteldirektor grinsend, "ich stelle sicher, dass alle Gäste vor mir ins Ziel kommen."

Und dann hängt auch noch die Spur nach links

Bei Kilometer 26 führt die Loipe am Flugplatz vorbei, auf dem die Privatjets landen. Neben der Spur fließt der Inn, er ist hier kaum breiter als eine Skilänge. In La Punt geht's durch das Dorf, Neubauten imitieren mit Pseudo-Sgraffito-Fassaden das klassische Engadiner Haus. Bei Zuoz beginnen die sogenannten Golanhöhen: Kurze Anstiege kosten die letzte Kraft, gemeinerweise hängt die Spur nach links. Jetzt wird klar, wie klug die Taktik von Lamm ist: "Ich teile mir das Rennen in den Flachstücken so ein, dass ich am Schluss nicht auf den Felgen daherkomme."

Noch eine scharfe Linkskurve, eine Brücke über den Inn, dann ist endlich das Ziel erreicht. Im Heerlager werden Getränke und Riegel gereicht, Glück und Erschöpfung überall, und alle wollen nur noch eins: ganz schnell warme und trockene Kleidung. Vor dem Start konnte jeder seine Klamotten in einem Beutel abgeben, das Schweizer Militär transportiert diese sogenannten Effektensäcke zum Ziel, hier werden sie von Helfern ausgegeben. Emil Tall, der langjährige Präsident des Organisationskomitees, zitiert aus dem Dankesbrief eines italienischen Teilnehmers: "Die Organisation war perfekt - können Sie bitte nach Mailand kommen und unsere Probleme lösen?"

Die Rhätische Bahn hat am Ziel in S-chanf eine eigene Haltestelle für den Marathon eingerichtet. Aber 1991 half aller schweizerische Aufwand nichts - der Marathon musste abgesagt werden. Ein Wärmeeinbruch ließ den Schnee schmelzen, die Skifahrer hätten durchs Wasser waten müssen. Deshalb stellt der penible Veteran Ueli Lamm klar, dass er dieses Jahr erst zum 49. Engadiner Skimarathon antritt. Er hat jedoch ein klares Ziel vor Augen: "Den fünfzigsten, den will ich nächstes Jahr schon noch schaffen."

© SZ vom 22.02.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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