Süddeutsche Zeitung

Küche in Singapur:Essen, das nach Kindheit schmeckt

Junge Köche in Singapur besinnen sich auf die kulinarischen Traditionen der Stadt. Sie haben allerdings scharfe Kritiker.

Von Patricia Bröhm

Wenn sich die Tür zu seinem Restaurant Candlenut öffnet und eine winzige alte Frau ganz in Schwarz den Raum betritt, dann steht Malcolm Lee jedes Mal für einen kurzen Moment das Herz still vor Schreck. "Es gibt einen Menschen, den ich mehr fürchte als alle Restaurantkritiker zusammen", sagt er. "Meine Großmutter." Und obwohl er seit 2016 mit einem Michelinstern ausgezeichnet ist, bleibt die über 80-Jährige für ihn die höchste kulinarische Instanz überhaupt. Denn sie ist, wie in jeder Peranakan-Familie in Singapur, die Hüterin des Heiligen Grals der Familienrezepte.

Die Großmutter merkt sofort, wenn der Enkel die Gewürzpaste anders dosiert

Sie merkt sofort, wenn ihr Enkel auch nur eine der vielen Zutaten für die traditionelle malaysische Würzpaste mal anders dosiert hat: Rempah heißt die und basiert auf rotem Chili, Kurkuma, Galgant, Zitronengras und einem Dutzend weiterer Gewürze. Lee erinnert sich noch im Detail an die köstlichen Rempahs und Currys, die seine Mutter und Großmutter zubereitet haben, als er noch ein Kind war: "Der Duft zog mir beim Heimkommen schon in die Nase, sobald sich die Aufzugstüre in unserem Stockwerk öffnete." Es sind die Aromen seiner Kindheit, die er heute in seinem Restaurant heraufbeschwört. Zum Beispiel in "Mum's Chicken Curry", das immer auf der Karte steht: gebratenes Huhn in einer scharfen, mit Kartoffeln gebundenen Currysauce, hauchdünn geschnittene Streifen der Blätter von Kaffir-Limetten sorgen für Zitrusfrische.

"Wir sind das einzige Peranakan-Restaurant überhaupt, das mit einem Michelinstern ausgezeichnet ist", darauf ist der junge Küchenchef stolz. Was natürlich auch daran liegt, dass die Peranakan-Küche nur in Singapur existiert und erst in den vergangenen Jahren ein Revival erfuhr. "Peranakan" heißt "Mischling" auf Malaiisch, so bezeichnete man die Nachkommen jener chinesischen Einwanderer, die sich Mitte des 19. Jahrhunderts als Händler in den geschäftigen Häfen von Singapur, Malakka und Penang angesiedelt und malaiische Frauen geheiratet hatten. Ihre Kultur, Sprache und Küche war und ist eine faszinierende Mischung aus chinesischen und malaysischen, bisweilen auch indischen oder europäischen Einflüssen. Singapur mit seinen heute 5,6 Millionen Einwohnern, seinem globalisierten Lebensstil und dem von Wolkenkratzern aus Stahl und Glas geprägten Stadtbild haftet von jeher das Klischee des "Melting Pot" an. Auf der Suche nach einer eigenen Identität entdeckte man jüngst die Peranakan wieder, die heute als eine Art Urzelle für die Vielvölkerstadt gelten.

"Die Menschen möchten verstehen, wo sie herkommen", sagt Damien D'Silva. "Vor allem in einer so jungen Stadt wie Singapur. Wir sind hier alle Immigranten. Die Peranakan-Küche schenkt uns kulinarische Wurzeln." Auch D'Silva hat sich als Koch auf die traditionellen Rezepte seiner Familie spezialisiert, zurzeit tut er dies als Küchenchef in einem Hotelrestaurant namens Folklore. Wir treffen ihn aber in Katong, einem von Touristen weniger besuchten Viertel im Osten Singapurs. Hier, an der Joo Chiat Road, wuchs er auf, hier lernte er die Küchengeheimnisse seiner Peranakan-Großmutter kennen, wenn er im traditionellen Granitmörser die Chilis zerkleinern durfte, die sie für ihre Belacan, eine fermentierte Krabbenpaste, verwendete. Die Joo Chiat Road ist bis heute das Herz des Viertels, das für die wiedererstarkende Peranakan-Kultur steht. Hier haben viele der typischen "Shophouses" überdauert, deren Bewohner im Erdgeschoss einen Laden betrieben und im ersten Stock lebten. Als Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts die koloniale Wirtschaft Singapurs zu boomen begann, machten viele der geschäftstüchtigen Peranakan-Familien ein kleines Vermögen. Sie erbauten die schmalen, zweistöckigen Häuschen, deren Fassaden oft mit üppigem Stuck und bunten Kacheln verziert sind und in Pastelltönen von rosa über gelb bis mintgrün gestrichen wurden; in den Vorgärten blühen weiße Frangipanibäume. "Die Häuser sehen von außen klein aus", sagt D'Silva, "aber sie sind sehr tief. Und ganz hinten war immer die Küche, das Herz jedes Peranakan-Haushalts."

Früher war die Straße voller Garküchen, heute findet man diese mit Glück in Markthallen

Ein beißend-würziger Duft steigt in die Nase, als D'Silva die Tür einer winzigen Garküche öffnet, über Holzkohle grillt ein alter Mann hier Otah-Otah, ein beliebtes Streetfood. Fisch oder Garnelen werden fein gehackt und mit Chili, Knoblauch, Zitronengras, Mehl, Ei und Kokosnusscreme zu einer Paste gerührt, die in ein Bananenblatt gefüllt und gegrillt wird, ein köstlicher Snack für umgerechnet 70 Cent. "Als ich in den Sechzigerjahren hier aufwuchs, war die Joo Chiat Road noch voller Straßenhändler, die rund um die Uhr Nudeln und Dumplings verkauften", sagt D'Silva. Die Singapurer Regierung verbannte die fliegenden Händler mit ihren Delikatessen aus Hygienegründen längst in sogenannte Hawker Centres. In solchen überdachten Markthallen findet man mit etwas Glück bis heute noch echte Peranakan-Küche, vor allem die farbenfrohen Desserts wie Tapioka-Küchlein mit Kokosnuss oder blau gefärbte Reisküchlein, wie sie bei Peranakan-Hochzeiten serviert wurden.

Auch hier in Katong wird die alte Kunst noch aufrechterhalten, zum Beispiel im Guan Hoe Soon, das damit wirbt, das älteste Peranakan-Restaurant der Stadt zu sein, gegründet 1953. Durch das Schaufenster kann man zusehen, wie alte Frauen mit flinken Fingern aus Klebreis kleine Klöße formen, die anschließend bunt gefärbt werden. "Früher nahm man für Grün Pandanblätter, für Blau getrocknete Bunga-Telang-Blüten und für Gelb Kurkuma", sagt D'Silva. "Heute wird viel mit Lebensmittelfarbe gearbeitet." Nicht so im Guan Hoe Soon, das garantiert der Duft von Reis und Pandanblättern, der bis auf die Straße dringt.

Heute ist man in Singapur stolz auf das Peranakan-Erbe, doch bis vor zehn Jahren konnten die wenigsten Einwohner mit dem Begriff etwas anfangen. Die alte Kultur verdankt ihre Wiederentdeckung nicht zuletzt der beliebten TV-Soap "The Little Nyonya", die von 2008 bis 2012 ausgestrahlt wurde. Nyonya ist ein altes malaiisches Wort für eine Lady, eine Frau von gewissem sozialem Status, deshalb wird die Küche der Peranakan auch oft als Nyonya Cuisine bezeichnet. Über das Leben der Nyonyas können sich Besucher heute im Peranakan-Museum informieren. Das weiße Gebäude im neoklassizistischen Stil wurde 1912 als chinesische Schule erbaut, heute erwachen hier in Multimedia-Inszenierungen die alten Geschichten zum Leben. Zu den schönsten Exponaten zählen die Kamcheng, bunt bemalte Porzellanschüsseln mit Deckel, in denen die Nyonyas ihre kunstvollen Gerichte servierten.

Direkt neben dem Museum liegt das True Blue Restaurant, dessen Eingang wie ein typisches Peranakan-Haus mit vielen Pflanzen und bunten Lampions geschmückt ist. Auch drinnen, im mit originalem Mobiliar ausgestatteten Gastraum, fühlt man sich wie auf einer Zeitreise. Auf den Tisch kommen hier Klassiker der Nyonya-Küche: Chab Chye, ein Gemüsegericht mit Kohl, Shiitake-Pilzen, Tofu und feinen Vermicelli in einer duftenden Brühe; oder Ayam Buah Keluak, mit Zitronengras und Kurkurma gedämpftes Huhn in einer Sauce aus schwarzen Buah-Keluak-Nüssen, die nur in der Peranakan-Küche verwendet werden. Dass hier alles nach den traditionellen Vorgaben auf den Tisch kommt, dafür sorgt in der Küche die Mutter des Besitzers - wer sonst.

Die Köche veredeln das kulturelle Erbe mit delikaten Zutaten

"Peranakan-Köche in Singapur haben ein großes Problem", sagt KF Seetoh, Street-Food-Experte und Gründer des beliebten Makansutra Food Guides: "Jeder Gast, der kommt, erzählt ihnen, dass das Beef Rendang oder Coconut Prawn Curry seiner Mutter, Großmutter oder Tante viel besser geschmeckt habe als das im Restaurant. Der Kampf gegen die Kindheitserinnerungen der Gäste ist nicht zu gewinnen." Deshalb versucht Malcolm Lee das auch gar nicht erst. Sein Weg im Candlenut ist ein anderer. Er will seinen Gästen zeigen, wie man die Aromen der Kindheit in einer zeitgemäßen Küche ganz neu entdecken kann. Seine Suppen und Currys serviert er in zeitgemäßer Keramik, seine Soßen sind nicht ganz so dick wie in den traditionellen Varianten, die Zutaten viel hochwertiger als in den Garküchen. Für sein Beef Rendang mit geraspelter Kokosnuss und Kurkumablättern verwendet er edles Wagyu Beef aus australischer Zucht. Und für das Yellow Coconut Crab Curry mit Ananas nimmt er statt der Garnelen der klassischen Version lieber delikateres Krabbenfleisch.

Aber es ist ein Dessert aus den für die Peranakan-Küche so typischen Buah- Keluak-Nüssen, das seinen Küchenstil vielleicht am besten verkörpert: Die fein gehackten rohen Nüsse versetzt er mit edler französischer Bitterschokolade und bereitet daraus ein Eis zu mit einer unvergleichlich erdig-bitter-säuerlichen Aromatik, die entfernt an Kaffeebohnen erinnert. Serviert mit leicht salziger Karamellsauce, Schokoladencrumble und Chiliflocken ist es ein Hochgenuss, angesiedelt irgendwo zwischen überlieferter Nyonya-Küchenmagie und globalen Fine-Dining-Trends. "Malcoms Küche ist sehr progressiv", sagt KF Seetoh. "Aber das ist der richtige Weg. Du musst dein kulturelles Erbe nehmen und es weiterbringen - sonst wird die Peranakan-Küche aussterben."

Reiseinformationen

Anreise: Singapore Airlines fliegt täglich von München nach Singapur ab 596 Euro in der Economy Class, www.singaporeair.com

Übernachten: Z.B. Goodwood Park Hotel, erbaut um 1900, großer Garten, www.goodwoodparkhotel.com

Peranakan-Küche: Candlenut, zeitgemäß-kreative Peranakan-Küche mit Michelinstern im Trendviertel Dempsey Hill, www.comodempsey.sg; True Blue, traditionelle Peranakan-Küche in historischem Dekor, www.truebluecuisine.com; Blue Ginger, authentische Peranakan-Küche, unbedingt Sambal Terong Goreng probieren, www.theblueginger.com

Peranakan-Kultur: www.peranakanmuseum.org.sg

Weitere Informationen: www.visitsingapore.com

Hinweis

Die Recherchereise für diesen Beitrag wurde zum Teil unterstützt von Veranstaltern, Hotels, Fluglinien und/oder Tourismus-Agenturen.

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SZ vom 06.12.2018/edi/cat
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