Sightjogging durch Barcelona:Geschichten im Galopp

Wer sich beim Sightseeing mehr bewegen als rumstehen will, der läuft einfach: Sightjogging durch die Altstadt von Barcelona - man hat ja schließlich nicht ewig Zeit.

Jochen Temsch

Die Sonne ist noch nicht aufgegangen über Barcelona, und das einzige Geräusch in den engen Gassen ist das rhythmische Schlappen von Gummisohlen auf glattem Pflasterstein.

Erst an der Plaça de Catalunya mischen sich andere Laute in den Takt: das Brummen von Kehrmaschinen, ab und zu ein Auto und die Rufe aufgekratzter Partygänger, die die Nacht durchgemacht haben und nun mit schmalen Augen Richtung Metro taumeln.

Diese Stadt schläft nie, aber manchmal dämmert sie zumindest ein bisschen vor sich hin: frühmorgens, wenn der Himmel noch eher schwarz ist als dunkelblau, wenn die Berauschten vollends nach Hause finden und die Büroangestellten noch nicht erschienen sind. Kurz nach sechs ist die einzige Zeit in Barcelona, auf die es halbwegs zutrifft, wenn man sagt: Da ist kein Mensch auf der Straße.

Aber Arnd Krüger. Der 39-jährige Schleswig-Holsteiner organisiert seit kurzem Barcelonas früheste Stadtbesichtigung: Sightjogging - also Sightseeing und Jogging in einem. Das ist so ähnlich, wie es eben auch Stadtführungen als Spaziergänge oder Radtouren gibt. Bloß schneller. "Es ist ein Angebot für Menschen mit viel Kondition und wenig Zeit - Geschäftsreisende zum Beispiel, die von Barcelona mehr sehen wollen als ihren Konferenztisch", erklärt Krüger in vollem Lauf.

Pausen nur auf Wunsch

Als Sportwissenschaftler mit einer Marathon-Bestzeit von 2:55 Stunden hat er mehr Puste als die meisten seiner Kunden, aber er hält ein angenehmes Tempo, bei dem man entspannt miteinander plaudern kann. Stopps gibt es allerdings nur auf besonderen Wunsch, etwa zum Fotografieren.

Lesen Sie weiter, warum man früh am Morgen auf der Plaça de Catalunya leicht einer Taube auf den Flügel treten kann.

Geschichten im Galopp

Den Tauben auf der Plaça de Catalunya ist das zu viel Aufregung um diese Uhrzeit. Vollgefressen von den Gaben der Barceloner, hocken sie zu Hunderten auf der Steinplatte und dösen der ersten Fütterung des Tages entgegen. Da muss die Laufkundschaft durch. Manche Vögel sind zu träge für einen Kaltstart, und wenn der Sightjogger dann nicht springt, tritt er den Schlaftauben auf die Schwingen. Bis das letzte Tier aufgewacht ist, sind die Jogger schon auf den Ramblas.

Die Kunden wollen schwitzen

Krüger achtet darauf, dass seine Touren sportlich sind. Er weiß, seine Kunden wollen schwitzen, nicht alle paar Meter anhalten und herumstehen. Eine seiner ersten Sightjoggerinnen war eine Managerin, die von morgens bis abends im Meeting saß, trotzdem auf einen Marathon trainieren und gleichzeitig Barcelona kennenlernen wollte. Aber auch ganz gewöhnliche, überhaupt nicht gehetzte Touristen machen Sightjogging - aktive Urlauber, die ihre Laufschuhe so selbstverständlich in den Koffer packen wie ihre Zahnbürste oder Sonnencreme.

Die Nachfrage nach dieser Art von Lauftourismus ist seit Jahren da. Deshalb gibt es Sightjogging bereits in zahlreichen Städten Europas und natürlich im Mutterland der Joggingbewegung, den USA: In New York zum Beispiel, Washington oder Chicago, in Rom, Budapest, aber auch in Hamburg, Mainz und Freiburg wird laufend Sehenswertes besichtigt.

Laufen mit Unterhaltung und ohne Druck

Es funktioniert überall auf der Welt gleich: Freizeitsportler entfalten ihren Bewegungsdrang und bekommen nebenbei eine lehrreiche Unterhaltung. Auch Krüger hat so eine ideale Kombination gefunden: Er machte seine Laufleidenschaft zum Nebenberuf. Seit vier Jahren lebt er mit seiner Frau in Barcelona und arbeitet als Drehbuchautor für deutsche Fernsehsender. Sightseeing in Bewegung, sagt er, habe ihm schon als Kind gefallen, als sein Vater mit ihm auf Städtereisen ging und ihm aus dem Baedeker vorlas.

Auf interessante Inhalte legt Krüger genauso viel Wert wie auf erhöhten Puls. Er organisiert unterschiedliche, zwischen acht und 15 Kilometer lange Ausflüge, die eine bis eineinhalb Stunden dauern und sich Themen widmen wie "Von Mittelalter bis Modernisme", "Montjuïc by night" oder "Von Gotik bis Gaudí".

Krüger ist kein Fitness-Guru. Er sagt: "Ich sehe das Laufen überhaupt nicht dogmatisch und habe dabei auch keinen höheren Missionierungsauftrag." Er wolle vielmehr einen bleibenden Eindruck von Barcelona und seinen Einwohnern vermitteln. "Ich möchte zeigen, warum den Katalanen ihr Anderssein im Vergleich zum restlichen Spanien so wichtig ist."

Ruhe wo sonst Rummel herrscht

Deshalb, und weil er die morgendliche Stille der Stadt nicht mit einer Horde quasselnder Touristen stören möchte, begleitet er höchstens drei, vier Personen auf einmal, meistens nur einen einzelnen Kunden. Den holt er dann zeitig in seinem Hotel ab, weil schon gegen zehn Uhr die Sonne zu stark sticht und die Menschenmassen alles verstopfen.

Jetzt aber: diese besondere, merkwürdige Atmosphäre, die menschenleere Orte umgibt, die man eigentlich nur voller Menschen kennt. Kaufhäuser, Rummelplätze oder Kneipen sind solche Orte, also die Ramblas ganz besonders, die tagsüber eine lärmende, heillos überlaufene Mischung aus Kaufhaus, Rummelplatz und Kneipe sind.

Erfahren Sie auf der nächsten Seite, welche Spuren die Pfennigabsätze von Barcelonas Prostituierten hinterlassen haben.

Geschichten im Galopp

Die Ramblas waren im Mittelalter die Kotabflüsse der Stadt. Heute gibt es hier Blumenstände, den Brunnen Font de Canaletes oder das Opernhaus Gran Teatre del Liceu. Sie stehen in jedem Reiseführer.

Aber da sind auch diese tiefen Einkerbungen in den steinernen Schwellen einer Bar mit der Hausnummer 22, und deren Geheimnis erfährt wohl niemand, der nur mit einem Buch unterwegs ist: "Diese Spuren haben die Prostituierten hinterlassen, die hier jahrzehntelang mit ihren Pfennigabsätzen standen", sagt Krüger. Er erklärt lebendig wie ein Turnschuhträger, nicht so trocken dozierend wie einer dieser Fremdenführer mit Fähnchen am Stock.

Im Zickzackkurs durch das Gotische Viertel

Ab und zu rempelt er seinen Kunden aus Versehen an. "Sorry, hier müssen wir abbiegen." Abrupt geht es im Zickzackkurs durch die engen, steinernen Gassen des Barri Gòtic, des Gotischen Viertels, in dessen labyrinthische Häuserschluchten die Sonne noch nicht scheint. Es stinkt nach Urin und Erbrochenem, ein paar Meter weiter duftet es aus einer Backstube nach Kaffee. Da bekommt ein Gemüsehändler frische Ware. Hier fault Abfall. Auf der Plaça Reial kicken Jungs mit Bierdosen. Ein kläffender Hund springt den Läufern nach.

Sightjogging ist eine sinnliche Erfahrung. Die Eindrücke kommen schnell, intensiv, und manchmal verwischen sie auch im Augenwinkel. Dann sagt Krüger: "Ah, das war gerade die Synagoge." Aber sein Anspruch ist nicht, die Sehenswürdigkeiten komplett abzuhaken. "Ich will Lust machen auf Barcelona", sagt er, "wer will, kann sich später alles noch einmal in Ruhe anschauen."

Zum Beispiel die gepflasterte Straße Carrer de Ferran, die bei den Dreharbeiten zu Patrick Süskinds "Das Parfum" als Kulisse für das Paris des 18. Jahrhunderts diente. In der Ausgestorbenheit des frühen Morgens muss man sich nur ein paar geparkte Autos für diesen Zeitsprung wegdenken. Oder die Carrer d'Avinyó, in deren Nähe Picasso wohnte, der hier "Les Demoiselles d'Avignon" malte - eben keine Jungfern aus der Provence, sondern Prostituierte aus dieser Straße.

Verträumte Plätze im Dämmerlicht

Eine Entdeckung ist auch die winzige, versteckte Plaza de San Felipe Neri, der Lieblingsort des Architekten Antoni Gaudí, der im Dämmerlicht so verträumt wirkt wie auf einem Dorf, aber um diese Uhrzeit noch Lagerplatz für Obdachlose ist. Solche Schattenseiten einer Stadt sind beim Sightjogging besser sichtbar als tagsüber im Gewimmel.

Oder die Konditorei in der Carrer Petritxol, wo die spätere Operndiva Montserrat Caballé Süßigkeiten kaufte, als sie hier noch als Taschentuchschneiderin arbeitete. Der Rollladen ist erst halb geöffnet. Graffiti sind darauf gesprüht, wie überhaupt auf fast alle Schaufensterabdeckungen dieser Straße. Hier durchzulaufen ist, wie eine Galerie für Straßenkunst zu besichtigen - aber eben auch nur jetzt, bevor die Läden für die Touristen hochgezogen werden.

Dann entspannen die Sightjogger längst in einer Strandbar. Laufen und schauen hat auch einen ganz banalen Reiz: Berge der hiesigen Spezialität Patatas Bravas, frittierte Kartoffeln mit scharfer Soße, schmecken schon kurz nach Sonnenaufgang toll.

Informationen

Anreise: Lufthansa bietet 17 tägliche Verbindungen (von Frankfurt, München, Düsseldorf und Stuttgart) nach Barcelona. Preis hin und zurück ab 99 Euro inklusive Steuern und Gebühren. www.lufthansa.com.

Weitere Auskünfte: Sightjogging Barcelona bietet Touren von verschiedener Länge, mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden und Themenschwerpunkten. Eine Person bezahlt für eine Stunde 70 Euro, für 90 Minuten 100 Euro. Eine Drei-Tages-Tour à 60 Minuten kostet 180 Euro pro Person.

Bei mehreren Personen sinken die Preise, bei vier Teilnehmern halbieren sie sich. www.sightjogging-barcelona.com

run@sightjogging-barcelona.com

Tel.: 0034/620469391

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