Sieben Tage in Tibet:"Diese Kopfschmerzen bringen mich um"

Höhenluft, drängelnde Chinesen, Abhöranlagen im Kloster: Tibets Klima ist gewöhnungsbedürftig.

Stefan Nink

Hinterher war ja immer alles toll - unterwegs aber geht es uns auf Reisen manchmal überhaupt nicht gut. Unser Autor hat das neulich in Tibet erlebt. Zum Glück lag sein Hotel mitten in der Altstadt von Lhasa. Hier Auszüge aus seinem Reise-Tagebuch.

Tibet Lhasa Potala-Palast Pilger

Huckepack trägt dieser Tibeter eine Pilgern die vielen Stufen zum Potala-Palast in Lhasa hinauf. Wegen der großen Höhe haben Touristen in der tibetischen Hauptstadt auch ohne Ballast Probleme, sich zu bewegen.

(Foto: picture alliance / dpa)

Erster Tag: Koffer ins Kreuz

Endlich angekommen, nach zwei entsetzlich langen Flügen. Locker von Frankfurt nach Peking, guter Wein, zwei Ballerfilme, gesicherter Erdnussnachschub dank Flirt mit der Stewardess. Dann: fürchterlicher Anschlussflug nach Lhasa. Schreiende Kinder, undefinierbare Kriegsgefangenenkost und überall Tüten und Taschen.

Warum müssen die Menschen in Asien immer mindestens 14 Handgepäckstücke mitschleppen? Und warum bleiben sie nach der Landung nicht sitzen, bis die Maschine steht? Natürlich fallen alle im Gang übereinander, als der Kapitän bremst. Bekomme einen kleinen Kunstlederkoffer von oben ins Kreuz und einen älteren Chinesen auf den Schoß. Gedrängel beim Aussteigen. Und dann werden alle schlagartig langsamer, als sie das Vakuum der Flugzeughülle verlassen. Sieht aus, als hingen sie an unsichtbaren Gummiseilen. Und sie keuchen ziemlich. Sollten halt langsamer machen.

Lhasa liegt 3650 Meter über dem Meeresspiegel, hier ist die Luft schon dünn. Alles funktioniert nur in Zeitlupe. Meine Reiseführerin Rigdsin hat mir gleich Tipps gegeben: Ausruhen! Nur Leichtes essen! Bloß keinen Alkohol!

Das Hotel ist wunderschön. Liegt direkt in der Altstadt und sieht aus, als sei es aus einem tibetischen Märchen gepurzelt. Und dieses Lhasa überrumpelt einen sowieso! Farben, Licht, Geräusche, Gerüche. Man wird auch gleich mitgerissen vom Strom der Menschen, die im Uhrzeigersinn um den Jokhang pilgern. Der Tempel ist Tibets Nationalheiligtum und macht Lhasa für den tibetischen Buddhisten so bedeutend wie für den frommen Katholiken Rom, Lourdes und Oberammergau zusammen. Bin gleich zwei Runden mitgegangen zwischen den Pilgern. Manche lassen sich alle zwei Schritte auf den Boden fallen, rutschen eine Körperlänge nach vorne und liegen erneut auf dem Boden. Ich fand das normale Gehen schon anstrengend genug.

Zweiter Tag: Bloß keine Eier

Super geschlafen, beim Aufwachen allerdings völlig erledigt - als ob ich nach einer achttägigen Grippe das erste Mal auf den Beinen wäre. Dazu ziemliche Kopfschmerzen. Keinerlei Appetit, vor allem nicht auf Eier. Der Chef der Frühstücksraummannschaft fragt trotzdem etwa fünfmal in bellendem Befehlston nach: "Eggs! Sir! Eggs!" Offensichtlich ist das hier ziemlich ungewöhnlich, dass jemand morgens keine Eier will.

Zum Glück sind da Pema und Nyima, zwei Frauen, die leise singend mit Kaffee und Tee hin- und herschweben. Ihre Gesichter sind von einer seltsamen Zeitlosigkeit. Man glaubt, in jahrtausendealte Dynastien zu blicken, wenn sie einen fragen, ob man noch eine Tasse möchte.

Rigdsin holt mich ab, wir schauen uns den Norbulingka an, die Sommerresidenz des Dalai Lama, aus der er 1959 vor den Chinesen geflohen ist. In den Palast selbst darf man nicht, deswegen gehen wir im Garten spazieren. Mein Kopf möchte detonieren. Außerdem ist mir blümerant, weil ich weder die Eier noch sonst etwas zum Frühstück gegessen habe. Also brechen wir das Besichtigungsprogramm ab.

Hoffen auf Besserung

Im Hotel lege ich mich ins Bett und werde erst vier Stunden später wieder wach. Jetzt tun auch Nacken und Schultern weh. Mir ist kalt. Ich zittere auch ganz komisch. Im Reiseführer steht, dass so etwas absolut üblich ist, wenn man ohne Akklimatisierung in dieser Höhe landet. Nach zwei oder drei Tagen sei es meistens vorbei.

Tibet Lhasa Jokhang-Tempel Buddha

Buddhistische Pilger werfen sich vor dem Jokhang-Tempel in Lhasa auf den Boden.

(Foto: picture alliance / dpa)

Im Schlafsack in die Sonne ans Fenster gesetzt und das Treiben vor dem Hotel beobachtet. Der kleine Hof ist durch ein gewaltiges Eisentor gesichert, das nur dann geöffnet wird, wenn der Fahrer eines wartenden Kleinbusses mindestens 17-mal laut gehupt hat. Dann bequemt sich der Torhüter aus seinem Stuhl und blökt den Fahrer an, was er denn wolle und wieso er hupe, worauf der Fahrer - jeder Fahrer - so etwas brüllt wie: "Ich muss Gäste abholen!" Beziehungsweise: "Ich bringe Gäste!" Worauf der Torwächter dann tatsächlich das Tor öffnet und sich der Stau aus Pilgern, Eselskarren und Militärpatrouillen hinter dem wartenden Kleinbus auflösen kann.

Gehe zurück ins Bett, schlafe wieder ein und schlafe bis nachts, schlafe dann immer weiter.

Dritter Tag: Einlullende Mantras

Der Majordomus schmettert mir sein "Eggs? Sir? Eggs?" entgegen, als ich noch auf der Treppe bin. Keine Eier, bitte nicht. Auch kein Porridge, und Bohnen auch nicht, dankeschön. Zum Glück wird er von einer Touristin aus Sachsen abgelenkt, die ihm erklärt, was sie noch alles für ihre tibetische Gebetsecke zu Hause einkaufen muss. Ich knabbere an einem Toastbrot. Diese Kopfschmerzen bringen mich um.

Rigdsin schaut etwas besorgt, als ich in die Lobby geschlurft komme. Aber morgen sei es bestimmt besser, sagt sie, und heute gehen wir auch nicht weit, nur bis zum Nonnenkloster Tsamkhung. "Nicht weit" ist in Lhasas Altstadt allerdings ein dehnbarer Begriff. Meist sind derart viele Menschen unterwegs, dass man sein Tempo nicht selbst bestimmen kann, sondern mitgeschoben wird. Außerdem kommt es etwa alle 100 Meter zu beträchtlicher Rauchentwicklung, wenn die Pilger bündelweise Wacholderzweige in große, steinerne Verbrennungsöfen stopfen. Ihre Gebete steigen mit dem Rauch hinauf zu den Göttern, heißt es. Für die Kopfschmerzen ist er nicht gut, der Rauch.

Offensichtlich sehe ich ziemlich mitgenommen aus, als wir im Kloster ankommen, jedenfalls werde ich von zwei kräftigen Nonnen untergehakt und auf ein freies Sitzkissen bugsiert. Dann beginnt das Mittagssingen.

Auf keinen Fall Medikamente nehmen

Tibet Lhasa Sera-Kloster Mönche

Buddhistische Mönche debattieren im Innenhof des Sera-Klosters in Lhasa.

(Foto: picture alliance / dpa)

Außer mir ist noch eine alte Frau zu Gast, die eine Ziege am Halsband mitgebracht hat. Der Frau ist von ihrem Lama aufgetragen worden, für ihr Seelenheil ein Leben vor dem Schlachter zu retten. Auf dem Rückweg am Jokhang in der Sonne die Pilger betrachtet. Als mir schwindlig wird, setze ich mich auf die warmen Bodenplatten. 20 Sekunden später sind zwei Polizisten in Zivil da. Ich muss sofort aufstehen. Wahrscheinlich befürchten sie, ein auf dem Boden sitzender Ausländer könnte der auslösende Moment für wochenlange gewalttätige Demonstrationen sein.

Im "Whole World Supermarket Welcome" neben dem Hotel Wasservorräte und Kekse gekauft, auf die ich aus unerfindlichen Gründen Appetit habe. Bevor ich die Packung öffnen kann, schlafe ich ein.

Vierter Tag: Schnee am Kloster

Die halbe Nacht wach wegen der Drecks-Kopfschmerzen. Bei Höhenkrankheit dürfe man auf keinen Fall Medikamente nehmen, steht in meinen Reiseführern: Weil die den Schmerz lindern, merke man nicht, wenn es dann allmählich gefährlich werde, Lungenödem und so weiter. Keine Tablette also, stattdessen die Kekse. Schmecken sehr merkwürdig. Ich untersuche die Packung: haltbar bis mindestens 2003.

Nach dem Frühstück fahren wir ins Ganden-Kloster. Mein Fahrer heißt Tashi und hasst die Chinesen. Wenn irgendwo jemand eine Panne hat und winkt, fährt Tashi ganz langsam an den Hilfesuchenden heran, und wenn er sieht, dass es ein chinesischer Fahrer ist, lacht er laut auf und gibt Vollgas. Das Kloster liegt auf 4200 Metern, hier oben ist tiefer Winter. Draußen stürmt und schneit es, drinnen ist alles vom Qualm der Butterkerzen zugenebelt. Muss mich alle zehn Minuten setzen. Rigdsin scheint nun ernsthaft besorgt.

Fünfter Tag: Schreiende Mönche

Morgens vom Murmeln der Pilger und dem Rasseln ihrer Gebetsmühlen wach geworden. Etwas besser gefühlt. Beim Frühstück die Touristin aus Sachsen angeherrscht, die mir von ihrer tibetischenGebetsecke erzählen will. Eier barsch abgelehnt. Pema und Nyima summen zweistimmig.

Videokameras und Richtmikrofone

Tibet Lhasa Potala-Palast

Der Potala-Palast, die Winterresidenz des Dalai Lama, ist die wichtigste Sehenswürdigkeit im Land.

(Foto: Getty Images)

Vormittags kein Programm. Bringe die Kekse zurück und unterhalte mich mit dem Chef des "Whole World Supermarket Welcome" über den FC Barcelona. Später ins Kloster Sera, wo die Mönche gerade einen Diskussionsnachmittag im Innenhof abhalten und sich anschreien. Das Original-Kloster wurde wie Tausende andere auch von den Chinesen zerstört. Was vor ein paar Jahren rekonstruiert wurde, sieht auch fast schon wieder so aus, als stamme es aus dem 14. oder auch 11. Jahrhundert. Sonne, Sturm, Frost, der Sand, den der Wind unaufhörlichzum Schmirgeln an die Mauern schickt - all das scheint dazu beizutragen, dass die Dinge schneller altern hier, die Dinge und die Menschen. So, wie ich mich fühle, trifft das auch auf Touristen zu.

Sechster Tag: Eier, bitte!

Es scheint allmählich aufwärts zu gehen: Dem "Eggs! Sir! Eggs!" beim Frühstück erstmals zugestimmt. Rigdsin ist hocherfreut: "Dann können wir heute zum Potala!" ruft sie. Der Winterpalast des Dalai Lama ist natürlich die wichtigste Sehenswürdigkeit im ganzen Land, ein Klotz, eine Trutzburg, ein 999-Zimmer-Amtssitz auf einem Berg über der Stadt. Innen schieben einen Hunderte Mitbesucher durch immer neue Empfangszimmer, Höfe, Flure, Andachtsräume und Versammlungshallen. Alles ist in ewige Düsternis gehüllt, aus dem gelegentlich steinalte Pilger wie Schatten auftauchen. Ich entdecke einen jungen Mönch, der betend in einer Ecke sitzt. Als er glaubt, dass alle aus dem Raum sind, holt er ein Handy aus der Robe und spielt "Angry Birds".

Rigdsin flüstert, dass die Räume hier videoüberwacht sind und sie deswegen besser flüstert. Auf dem Vorplatz draußen werden Gespräche übrigens mit hochempfindlichen Richtmikrofonen belauscht. Hoffe, die waren heute eingeschaltet. Dann können die Behörden nämlich nachhören, was passiert, wenn ein Modemagazin ein Shooting vor dem heiligen Ort organisiert. Ältere tibetische Pilger können ziemlich laut schimpfen.

Siebter Tag: Die Rettung

Der bislang schönste Tag der Reise! Morgens Eier, dann die Kinder von Pema und Nyima in die Schule gebracht. Anschließend lange bei einem Hutverkäufer in der Altstadt gesessen und ein passendes Exemplar gegen die Höhensonne erstanden. Zufällig eine der Nonnen aus dem Tsamkhung-Kloster getroffen, mit ihr zum Mittagssingen gegangen. Notizen iIn einem kleinen Café vervollständigt, dabeiein eiskaltes Lhasa-Bier getrunken und Chips geknabbert. Besorgungen und etliche Fotos gemacht. Im Hotel dann einen Buttertee mit dem Torwächter getrunken.

Ach so: Die Kopfschmerzen sind verschwunden. Komplett. Der Frühstücksraumaufseher hatte mir einen Chiropraktiker in der Dekye Shar Lam empfohlen(Pema und Nyima haben genickt). Der gute Mann benötigte einen einzigen Ruck, bei dem es irgendwo im Nacken laut geknackst hat - die Schmerzen waren augenblicklich weg. War gar keine Höhenkrankheit. War der Kunstlederkoffer aus dem Handgepäckfach.

Morgen geht's dann los mit der Rundreise. Aber eigentlich kenne ich Tibet schon.

Informationen:

Anreise: über Peking oder Shanghai; von dort kann man mehrmals täglich nach Lhasa fliegen. Flüge nach Tibet können (offiziell) nur im Rahmen einer Gruppenreise gebucht werden.

Reisearrangements: Der Veranstalter Marco Polo bietet eine Individualvariante an; 13 Tage ab 3379 Euro inkl. Flüge, Guide und Transport; www.marco-polo-reisen.com. Bei der Expeditions-Studienreise von Studiosus wird neben den kulturellen Höhepunkten Zentraltibets auch der Westen besucht. 22 Tage, ab 4298 Euro; www.studiosus.com

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