Süddeutsche Zeitung

Serie "Mythos New York":New York, du kannst so spießig sein

New York ist die Stadt der Singles und des freien Sex. Heißt es zumindest. Das erste Big-Apple-Klischee im Realitätscheck unserer neuen Serie.

Von Johanna Bruckner, New York

Eine durchschnittliche Hochzeit in Manhattan kostet 88 000 Dollar. Diese Zahl habe ich von einer Kollegin, die im Sommer heiraten will - trotzdem. Ich weiß außerdem von einem befreundeten Pärchen mit kleiner Tochter, dass eine Kita in New York teuer und eine Nanny unbezahlbar ist. Als ich an einem verschneiten Januarsonntag in einem Park in Brooklyn joggen war, wäre ich beinahe von Kinderschlitten überfahren worden. Und am Tag vor Valentin stöbern im "Museum of Sex" auf der Fifth Avenue Pärchen durch das Angebot an Liebeswürfeln und fellbezogenen Handschellen.

Erster Eindruck: Man trifft in New York Heiratswillige, Pärchen mit Kindern, Pärchen ohne Kinder, Kinder ohne Aufsichtsperson, aber eher keine Singles. Dabei soll die Stadt das Mekka der selbstbestimmt Alleinstehenden sein. Garten Eden, Big Apple, Sündenfall - das kann doch kein Zufall sein!

Serie "Mythos New York"

"Die Stadt, die niemals schläft", "Metropole der Singles", "unbezahlbar" - Reisende haben viele Bilder im Kopf, wenn sie New York City besuchen. Aber was ist dran an den Klischees? In unserer Serie "Mythos New York" macht unsere neu angekommene Korrespondentin den - ganz subjektiven - Realitätscheck.

Oder ist New York als Stadt der Singles nur ein Mythos? Befeuert von Sex and the City-Wiederholungen im Fernsehen und mündlichen Überlieferungen von ehemaligen Bank-Praktikanten, die es hier mal so richtig haben krachen lassen? Anno 1999.

Beim Dating zahlt er

Tatsächlich gibt es hier natürlich Ungebundene, auch wenn sie im Stadtbild weniger auffallen. Das könnte an der Arbeitsmentalität von Singles in Verbindung mit ihrer Durchschnittsgeschwindigkeit liegen. Entweder sie sitzen 14 Stunden am Tag in glitzernden Glastürmen oder sie hetzen gerade durch den Straßendschungel zum nächsten Termin. Wenn man sich mit Singles unterhält, stellt man fest: Viele Menschen scheuen in New York eine langfristige emotionale Investition. Für sie ist die Stadt nur eine Episode. Irgendwann ist der Job zu Ende, oder das Geld. (In New York eine Person durchzubringen, ist teuer genug.)

Romantik wird hier zur ritualisierten Angelegenheit. Beim Dating zahlt er. Das erste Treffen dauert oft nur eine halbe Stunde und findet meistens in einem Café oder einer Bar statt. Wenn es gut läuft, hat er eine anschließende Reservierung in einem Downtown-Restaurant in der Hinterhand. Läuft es sehr gut, steigt man Midtown aufs Empire State Building oder spaziert Uptown durch den Central Park. Wenn es schlecht läuft, geht jeder seiner Wege. Das spart Zeit, schließlich hat hier jeder genug zu tun. Der New Yorker weiß deshalb auch ein gut sortiertes Valentinstagskartenregal zu schätzen: Zuneigungsbekundungen kommen hier nicht von Herzen, sondern vom Grußkartenhersteller. Aus pragmatischen Gründen mindestens bis zur Verlobung.

Es gibt einen weiteren Grund, warum Menschen aus New York weggehen: Einsamkeit. Das Ganze hat dann etwas von einem Henne-Ei-Dilemma: Wer war zuerst hier? Die Menschen, die sich nicht festlegen wollen? Oder die Menschen, die alleine vor dem Fernseher sitzen und beim Klassiksender "Harry und Sally" gucken? Die Schnittmenge könnte groß sein.

Eine Amerikanerin, die ich hier kennengelernt habe, hat neulich Nacht im Diner einen halbstündigen Monolog gehalten. Es ging tatsächlich um vier Männer, mit denen sie im weitesten Sinne intim ist: von einer E-Mail-Freundschaft bis zu Sex im Central Park. Das hört sich nach leidenschaftlichem Single-Leben an, endlich. Doch sie will jetzt nach Deutschland auswandern - ihr Sehnsuchtsort für beziehungsmäßige Verbindlichkeit.

New York war zumindest mal der Gegenentwurf dazu. Im "Museum of Sex" finden Besucher nicht nur einen gut sortierten Shop, sondern auch eine Ausstellung mit Fotos von Bill Bernstein. Bernstein war Partyfotograf, bevor dieser Beruf zum Hobby von Jünglingen mit Popo-Frisur wurde. Er hat in den Siebzigern im "Studio 54" fotografiert, im "Le Clique" und in "GG's Barnum Room". Seine Schwarz-Weiß-Aufnahmen sind ein Porträt der Disko-Ära. Häufigstes Motiv: auf der Tanzfläche kopulierende Pärchen. Wobei "Pärchen" hier keinen längerfristigen Zustand beschreibt, sondern einen flüchtigen, sexuell aufgeladenen Moment.

Es gibt Fotos von Männern und Frauen, Fotos von Männern mit Männern, Fotos von Männern in Frauenkleidern und Fotos von Frauen mit Penis. "Diese Pioniere haben grenzüberschreitende Gemeinschaften der Möglichkeit und der Lebenslust geschaffen und nicht nur ihre eigene Gegenwart revolutioniert, sondern auch den Weg für unsere Zukunft bereitet", schreibt der Autor und Popkultur-Experte Barry Walters. Sexuelle Selbstbestimmung und Freiheit gehören zur Identität von New York - aber sie sind auch Teil der riesigen Trivia über die Stadt. Im Museums-Laden gibt es weiße Tennissocken zu kaufen, mit schwarzem Faden ist "Fuck my socks off" eingestickt.

Treffen sich eine Amerikanerin und ein Brite

Wer als Tourist nie das Museum besucht, kann sich für einen etwaigen New-York-Flirt zumindest folgenden Fun Fact merken: Die Library of Congress in Washington übersetzt seit 1970 einzelne Ausgaben des Playboy in Blindenschrift.

Die Annäherung in einer Stadt, in der potenziell jeder aus einem anderen Kulturkreis kommt, ist nämlich voller Tücken - ein Wunder, dass es so viele Paare gibt. Als Neuankömmling beobachtet man in der Subway eine Situation wie diese: Es unterhalten sich eine Amerikanerin und ein Brite, man hat sich offenkundig gerade erst kennengelernt. Es geht um Politik ("All of us are racists. That's what we've learned.") und äußerst Privates (er befürchtete nach einem One-Night-Stand kurz, dass er Vater wird, ging aber gerade noch mal gut, puh).

Dann kommt die Sprache auf die Bands der eigenen Jugend - und mit einem Satz reißt sie einen Graben auf, der sich schwerer überbrücken lässt als der Atlantik zwischen Großbritannien und Amerika: "Take That? I've never even heard of them!"

Tipps für die nächste Reise nach New York:

Für Singles: "Whole Foods". Filialen der hippen Bio-Supermarkt-Kette gibt es überall da, wo (gutverdienende) Singles wohnen. Wer dort für mehr als eine Person einkaufen muss, ist schnell arm.

Für Verliebte: der "Love"-Schriftzug an der Ecke 6th Avenue/55th Street. Erst ein Foto zu Füßen der roten Lettern machen, dann bei "Joe & the Juice" einen frischgepressten Saft mit zwei Strohhalmen trinken.

Für Eltern: Schritt eins: eine Kinderbetreuung organisieren (z. B. www.babysittersguild.com). Schritt zwei: siehe "für Verliebte".

Für frisch Getrennte: "Marie's Crisis", 59 Grove St, Manhattan. Dieser Live-Musik-Club liegt mitten im bei Schwulen und Lesben beliebten Greenwich Village. Hier findet jeder einen charmanten Gesprächspartner. Und sei es nur, weil man keinen einzigen Musical-Song mitsingen kann - was der Rest des Publikums unfassbar (komisch) findet.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3383006
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ.de/ihe/sks
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.