Ein Tag in Reit im Winkl:Gleitzeit in Bayern

Reit im Winkl gilt als Schneeloch. Doch selbst in dem Dorf im Kaiserwinkl an der Grenze zu Österreich, das seit dem 19. Jahrhundert Wintertourismus kennt, muss mittlerweile ab und an nachgeholfen werden.

Von Florian Sanktjohanser

Zum Frühstück gibt es im Hotel Edelweiß Frotzeleien. "Wie alt sind sie?", fragt eine Dame einen Herrn am Buffet. "69? Ah, ein Jungspund." Sie sei 82, ihr Mann 83. Die beiden sind zum sechsten Mal hier. Früher sind sie alpin Ski gefahren, aber jetzt zwickt die Hüfte, und sie gehen langlaufen. Ein unaufgeregter Winterurlaub also. Dafür haben sie sich genau den richtigen Ort ausgesucht: Reit im Winkl.

Damit kein falscher Eindruck aufkommt: Das Dorf im Kaiserwinkl an der Grenze zu Österreich ist kein Senioren-Refugium. Zwischen den alten Bauernhäusern spazieren auch Familien und junge Paare herum. Aber die große Après-Ski-Party steigt definitiv woanders. "Die Stammgäste schätzen es gerade, dass sich nichts ändert", sagt die Langlauflehrerin Marlies Speicher. Dass es keine Fünf-Sterne-Hotels gibt, keine Klubs und Champagnerbars und keine Showrooms mit Protzkarren. Sie übernachten gerne in den urigen Pensionen und Ferienwohnungen. Und abends gehen sie beim günstigen Italiener essen oder in der Alten Schmiede, die seit 1496 am Hang hinter der Kirche steht.

Früher wollten die Gäste eher schwierige Loipen, heute muss es sonnig und leicht zu laufen sein

Reit im Winkl muss sich nicht aufplustern, der Luftkurort hat eine große Tradition, einen eigenen Dialekt mit Wörterbuch und -meistens- sogar Schnee. Der Tourismus begann hier 1858, als der bayerische König Maximilian II. das Dorf besuchte, Adelige und Künstler folgten ihm. Im Winter allerdings war das "bayerische Sibirien" in seinem Bergkessel lange unerreichbar, abgeschnitten durch die großen Schneemassen. Das Skifahren begann so aus purer Not. Förster, Postboten, Ärzte und Zöllner schnürten sich Holzplanken unter die Schuhe, um im Winter ihre Arbeit tun zu können. Erst als die skierfahrenen Gebirgsjäger aus dem Ersten Weltkrieg heimkehrten, wandelte sich das Skifahren zum Sport, 1921 wurde der Skiklub gegründet, zwei Jahre später kamen mit der neuen Waldbahn aus Traunstein die ersten Winterurlauber nach Ruhpolding. Und als 1950 bei den Deutschen Nordischen Skimeisterschaften 17 000 Zuschauer mitfieberten, gab es kein Halten mehr. Mehr als 100 Mal wurden Einheimische aus Reit im Winkl deutsche Meister in den verschiedenen Skidisziplinen.

Heute verdient fast jeder Dorfbewohner sein Geld mit den Touristen, die vor allem aus Deutschland anreisen, aber auch aus den Niederlanden und Frankreich, aus Brasilien und den Golfstaaten. Es gibt 4635 Gästebetten und 60 Restaurants. "Unser Ort lebt vom Langlaufen und Winterwandern", sagt Andreas Mühlberger, der Besitzer eines Sportgeschäfts. Das alpine Skifahren spielt in Reit im Winkl eher die dritte Geige. Für Anfänger ist das kombinierte Skigebiet aus Winklmoosalm und der österreichischen Steinplatte zwar wunderbar, aber es hat eben nur zwergenhafte 42 Kilometer Piste zu bieten.

Langläufer dagegen wählen aus 150 Kilometern Loipen, von der kurzen Anfängerrunde bis zur Marathon-Loipe nach Ruhpolding und Inzell. "Früher wollten die Leute vor allem schwarze, schwere Rennstrecken laufen", sagt Mühlberger. "Heute will der Gast eine sonnige, leicht zu laufende Route." Besonders wichtig sind die Höhenloipen auf der Hemmersuppenalm und der Winklmoosalm, vor allem in Wintern wie diesem. "Wenn wir hier oben keinen Schnee haben, dann hat niemand Schnee", sagt Günter Dirnhofer, der die Hindenburghütte gemeinsam mit seiner Frau Sissi Dirnhofer betreibt. Im vergangenen Dezember allerdings habe man selbst auf den Almen zum ersten Mal Schneekanonen gebraucht. Und im Tal drängten sich an einem Tag 450 Langläufer auf einem zwei Kilometer langen, weißen Band über die braune Wiese.

Mittlerweile hat es gut geschneit, die breiten Dächer über den Holzbalkonen tragen weiße Hauben. Im Langlaufstadion schieben sich Schulklassen und niederländische Soldaten über die Spur, der Bäckermeister überholt im Profischritt. Und oben auf der Hemmersuppenalm wandern Familien über den ersten "Premium Winterwanderweg" Deutschlands. Es ist wieder wie immer. Den Stammgästen wird's gefallen.

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