Bansin dämmert der Nacht entgegen. Die Ostsee liegt schön und still im Abendlicht, über der Strandpromenade thronen die großen Hotelhäuser wie majestätische Wächter der Seebad-Idylle. Spaziergänger und Radler ziehen vorbei. Der Irrsinn der Stadtgesellschaft rotiert in irgendeiner Ferne. Wer jetzt auf Usedom ist, hat keinen Stress, der kann großräumig vorbeidenken an den Problemen des Alltags, Frieden tanken. Himmlisch. Oder?
Auf der Terrasse der Gaststätte Blauer Stein sitzt der Fischer Eddy Stoll, der schon in der DDR ungern an etwas vorbeidachte. Der das auch jetzt nicht machen kann, und der deshalb pfeift auf den ganzen schönen Seebad-Frieden. Die Gegenwart ist nicht nur rosig auf der Insel, aus der Stadtgesellschaft wehen Entscheidungen herüber, die Eddy Stoll auf die Palme bringen. Stichwort Fischerei-Politik. "Das ist alles ein Betrugssystem geworden", sagt Eddy Stoll mit seiner kraftvollen Stimme, "Deutsche werden nicht von Abgeordneten regiert. Sondern von Lobbyisten."
Die Schönheit Usedoms ist groß. In den Jahrzehnten vor und nach der Wende zum 20. Jahrhundert war sie für die feine Berliner Gesellschaft eine Art Laufsteg am Meer, ein Ort zum Sehen und Gesehenwerden. Und eine entschleunigte Filiale des urbanen Lebens. Wilhelm I. und sein Enkel, der letzte deutsche Kaiser Wilhelm II., kamen ebenfalls gerne, weshalb sich die drei Ostsee-Siedlungen Heringsdorf, Ahlbeck und Bansin unter dem Titel "Kaiserbäder" vermarkten. Auch ein paar berühmte Dichter waren seinerzeit unter den Usedom-Liebhabern, und natürlich stammen die schönsten Hymnen auf die Insel von ihnen. Theodor Fontane etwa schrieb 1863 in einem Brief an seine Frau: "Man hat Ruhe und frische Luft, und diese beiden Dinge erfüllen Nerven, Herz und Lungen mit einer stillen Wonne."
So kann man das im Grunde auch heute noch sagen. Usedom gewinnt sogar dadurch, dass es nicht mehr die Aura des Exklusiven hat. Die piekfeinen Unterkünfte, in denen auch immer wieder prominente Gäste logieren, fügen sich in eine Urlaubslandschaft für jedermann. Der weiße Strand lockt Meerschwimmer und Sandburgenbauer. Die Seebäder erstrahlen im Glanz der renovierten Bäderarchitektur, jenem stilvollen Nichtstil, in dem die reichen Leute der Gründerzeit ihre Villen bauen ließen. Die Strandpromenade von Bansin über die polnische Grenze nach Swinemünde soll mit zwölf Kilometern Länge die längste Europas sein. Es gibt auf Usedom 180 Kilometer Radwege, 400 Kilometer Wanderwege und ein uriges Hinterland.
Die Menschen hier kennen zweierlei Irrsinn: Sozialismus und freie Marktwirtschaft
Aber es gibt noch mehr zu entdecken als Natur, Meer und Häuser. Nämlich Wende-Geschichten, Brüche, Menschen. Leute wie der Fischer Stoll sind Zeugen des Umbruchs. Sie haben in zwei Welten gelebt. Im real existierenden Sozialismus der DDR und in der freien Marktwirtschaft des vereinigten Deutschland. Sie kennen zweierlei Irrsinn, und von beidem kann Stoll lebhaft erzählen, was er auch gerne auf den Katamaran-Ausfahrten tut, die er jede Woche mit Touristen unternimmt.
Eddy Stoll mochte die DDR-Regierung nicht. Er hatte West-Verwandtschaft und das Meer vor der Nase. Er wusste immer, was Freiheit bedeutet. Als die Mauer fiel, war er in Leipzig zum Demonstrieren. "Uns haben sie mit den Wasserwerfern mit roter Farbe bespritzt." Im neuen Deutschland ist es ihm dann nicht schlecht ergangen. Der Blaue Stein ist seine Gaststätte. Das Haus war vor der Wende ein Heim des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB). Er pachtete es, als die Mauer gefallen war; jetzt ist er also nicht nur Fischer, sondern auch Gastronom. Wobei er die Fischerei nicht aus seinem Herzen bekommt. "Fischer ist ja kein Beruf, das ist eine Berufung", sagt er, und insofern hat er doch auch was verloren durch die Wende.
Es war kein schlechtes Leben als Fischer in der DDR. Vor jeder Ausfahrt mit ihren Holzkuttern mussten sich Stoll und seine Kollegen zwar abmelden. Und es war verboten, Freunde und Verwandte mitzunehmen aufs Meer. Aber dort draußen spielte die staatliche Gängelei keine Rolle mehr. Die Fänge waren ergiebig, "Hering in Massen", sagt Stoll. Über die Genossenschaft verkauften sie den Fisch an den staatlichen Großhandel, und schwarz ging auch was. Aber heute? Die Freiheit ist weg, die Fangquoten der Europäischen Union schränken die Fischer ein. Und Massenware aus dem Ausland macht die Preise kaputt. "In Bansin waren wir früher immer so 35, 40 Fischer", sagt Eddy Stoll, "heute sind wir drei, davon kaufen zwei Fische auf und verkaufen die an Urlauber. Und einer fährt Urlauber spazieren. Das bin ich."
Früher. Heute. Das ist auf Usedom ein besonders interessanter Vergleich. Auch wenn es ums Urlaubmachen geht. Die Insel war zu DDR-Zeiten ein Traumziel der Werktätigen, viele Reisemöglichkeiten gestand der Staat ihnen ja nicht zu. Hotels gab es kaum in den Seebädern, dafür Ferienheime des FDGB, von Betrieben und Ministerien. Gewerkschaftsorganisationen oder Betriebe wiesen die Plätze dort ihren Beschäftigten zu, und weil es mehr Beschäftigte als Betten gab, galt es als Glücksfall, eines zu bekommen. Gegessen wurde meist in Durchgängen. Die DDR-Urlauber störte das nicht. "Man war glücklich, wenn man eine Herberge hatte, in der man ordentlich verpflegt wurde, und wenn man zum Strand gehen konnte", sagt Jürgen Pluschke, heute Fremdenführer, früher Offizier der DDR-Marine.
Die ersten Bürgermeister nach der Wende erkannten den Wert der alten Häuser
So genügsam muss heute keiner mehr sein. Usedom ist längst ein professionell vermarkteter Fremdenverkehrsort mit Unterkünften jeder Art. Sorgenfrei aber ist die Insel nicht. Die Verkehrsanbindung ist durchwachsen, nachdem die Ostsee-Autobahn entgegen ursprünglichen Plänen viel zu früh vor Usedom einen Bogen macht. Und die Stadt Swinemünde, Świnoujście, im polnischen Teil der Insel, ist ein ernst zu nehmender Konkurrent. Ohne große bürokratische Hürden baut der Ort sein Tourismusangebot aus. Zwölf neue Hotels sollen entstehen. "Da drüben findet eine Entwicklung statt, mit der wir nicht mithalten können", sagt Lars Petersen, Bürgermeister von Heringsdorf. Und ein bisschen hat die Usedom-Werbung noch damit zu kämpfen, dass die Insel zu DDR-Zeiten für West-Menschen ein weißer Fleck auf der Landkarte war. In der Rangliste dominieren die Gäste aus den neuen Bundesländern, bestätigt Dörthe Hausmann, die Geschäftsführerin der Usedom-Tourismus-GmbH.
Aber die Besucherzahlen sind ordentlich. Knapp eine Million Gäste kamen 2014 in den deutschen Teil von Usedom. Die Insel hat Flair. Die ersten Bürgermeister setzten nach der Wende nicht auf neue Bettenburgen, sondern erkannten, wie wertvoll der alte Baubestand war. Sie renovierten mit Respekt vor der Bäderarchitektur. Und in manche Häuser kehrten Familien zurück, welche die DDR einst enteignet hatte.
Uwe Wehrmann, früher Büromaschinen-Verkäufer aus Iserlohn, heute Hotelier in Heringsdorf, hat Fotos von früher geholt, die das Hotel "Ostseeblick" zeigen. "Das ist der ganz alte ,Ostseeblick' in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts", sagt er und reicht das Foto eines weitläufigen Gebäudes, das stolz über die Anhöhe zum Meer hin schaut. Die Familie Wehrmann unterhielt es damals als Unterkunft für bürgerliche Gäste - mit Warmwasser auf den Zimmern. Die anderen Fotos zeigen einen schmutzigbraunen, versachlichten Bau, der wie vorzeitig gealtert wirkt: der "Ostseeblick" als FDGB-Heim. "Das Haus sah fürchterlich aus", sagt Wehrmann.
Heute gehört das Strandhotel "Ostseeblick" zur Kategorie Vier Sterne Superior und steht mit seiner Geschichte für den Wandel der Zeit. Im Rahmen der Aktion Rose, einer Verstaatlichungs-Kampagne, hatte die DDR-Regierung 1953 Wehrmanns Großeltern enteignet und sie wegen Verstößen gegen das Gesetz zum Schutz des Volkseigentums verurteilt. "Weil sie ein Fass Heringe und einen Zentner Zucker im Keller hatten, und weil meine Oma angeblich übermäßig viel Kleidung besaß", erzählt Wehrmann. In den Sechzigerjahren zogen die Großeltern in den Westen, Wehrmann erinnert sich, wie seine Großmutter sonntags beim Kaffee immer wieder von Heringsdorf erzählte. Nach der Wende konnte Wehrmanns Vater einen Antrag auf Rückführung stellen. Uwe Wehrmann und seine Frau Sybille ergriffen die Chance.
Wehrmann durchlebte mit seiner Frau nervenaufreibende Jahre mit einer teuren Runderneuerung des Gebäudes. 1996 eröffneten die Eheleute den neuen "Ostseeblick". Wehrmann schwärmt von der Aufbruchstimmung, die damals auf Usedom geherrscht habe. Er bereut nicht, sich auf den Stress des Neuanfangs eingelassen zu haben. "Wann", fragt er, "hat es jemals in einem Wirtschaftssystem die Möglichkeit gegeben, so einen Start zu erleben?"
Usedom ist mehr als eine Urlaubsinsel: eine Denkmalinsel für die Wallungen der deutschen Geschichte. Man kann sich hier rausdenken aus der Hektiker-Welt und reindenken in die verschiedenen Epochen dieses seltsamen Orts, von dem man so leicht nicht mehr loskommt. Der Fischer Stoll jedenfalls wollte nie weg aus Bansin, egal, welcher Irrsinn herrschte. Es ging nicht. "Abhauen", sagt Eddy Stoll leise, "heißt auch, Heimat verlassen."