Schweiz:Muss man gesehen haben

Berggasthaus Aescher-Wildkirchli in den Schweizer Alpen

Der Aescher auf 1500 Metern Höhe ist eines der ältesten Berggasthäuser der Schweiz. Bereits im 18. Jahrhundert verkauften Eremiten dort Erfrischungen.

(Foto: Christian Regg/Unsplash)

Overtourism gibt es nur in Barcelona und Dubrovnik? Von wegen. Seit Influencer den Berggasthof Aescher in der Schweiz entdeckt haben, herrscht dort der Ausnahmezustand.

Von Charlotte Theile

Der Parkplatz unten an der Gondel in Wasserauen verheißt nichts Gutes. Schon einige Hundert Meter davor säumen Fahrzeuge den Weg, Ordner in neongelben Jacken sorgen für akkurat genutzte Stellplätze, der Beifahrer murmelt etwas von "Festivalstimmung, aber im negativen Sinne". Hinauf laufen? Ja, das könne man auch. Ein bisschen die Straße hinunter, dann links. Sonst scheint das niemand zu machen - bergauf wandern.

Stattdessen kommen einem einige Hundert Menschen entgegen, auffällig viele von ihnen im Influencer-Look: enge schwarze Hose, weißes T-Shirt, John-Lennon-Sonnenbrille. Dazu Gesprächsfetzen auf Englisch, Spanisch, Schwäbisch - "actually, for a place like that, I don't think it is crowded", "also g'lohnt hat es scho, der Trip, allei scho fürs Foto, des isch legendär". Der Weg wird etwas steiler. Dann zeigt sich eine Schweizer Fahne, darüber eine Felswand, die sich bedrohlich über die Menschenmassen wölbt. Das kleine, hölzerne Gasthaus, das sich an die Wand schmiegt, fällt erst beim zweiten Hinsehen auf. Es mutet fast unwirklich an, dieses Häuschen, man sieht ihm deutlich an, dass es aus einer anderen Zeit stammt. Einer Zeit, in der das Leben hier oben in den Bergen noch voller Entbehrungen, Erstbesteigungen und Entdeckungen war.

Das Gasthaus im Appenzeller Land mit der Aufschrift Aescher-Wildkirchli, vor dem sich jetzt Menschen aus China, den USA und Österreich drängeln, ist eines der ältesten Berggasthäuser der Schweiz. Bereits im 18. Jahrhundert hatten Eremiten und Senner unter dem Felsen Erfrischungen verkauft, zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstanden Restaurant und Hotelbetrieb. Eine lokale Berühmtheit, Geheimtipp, in dem es einfache Schlaflager und solide Käserösti gab. Die Käserösti gibt es immer noch - alles andere aber ist inzwischen ziemlich aus den Fugen geraten.

Die Familie Knechtle, die den Aescher seit mehr als drei Jahrzehnten in zweiter Generation führt, wird die Pacht Anfang November zum Ende der Saison aufgeben. Der Erfolg, den das Häuschen in den vergangenen Jahren hatte, ist weder dem Platz noch seinen Eigentümern gut bekommen. Ob sich ein neuer Pächter findet, ist fraglich: Der Aescher ist zum Symbol für "Overtourism" geworden, für all das, was schiefgehen kann, wenn ein Ort zum internationalen Must-see wird, auf einer der Listen auftaucht, die im Tourismusgeschäft so begehrt wie gefürchtet sind.

Ashton Kutcher empfahl seinen Facebookfans "20 geheime Orte", darunter: den Aescher

2014 befand die Huffington Post, das Berggasthaus auf knapp 1500 Metern Höhe, in dem es neben Rösti auch Wurst, Pasta und bunten Salat mit französischem Dressing gibt, sei "das interessanteste Restaurant der Welt". 2015 legte der US-Schauspieler Ashton Kutcher nach, empfahl seinen Facebookfans "20 geheime Orte", darunter: der Aescher, nur einen kleinen Spaziergang von der Gondelstation Wasserauen-Ebenalp entfernt. Im Oktober desselben Jahres prangte das Berggasthaus auf dem Cover des National Geographic.

Und Familie Knechtle? Gab kurze, freundliche Interviews und bemühte sich um eine Aufstockung der Infrastruktur. Ihre Kinder wuchsen mit atemberaubender Aussicht und Touristen aus aller Welt auf, im Sommer 2016 kam das dritte Kind. Heute wollen Knechtles keine Interviews mehr geben. Es sei ihnen nicht möglich, "Zeit und Energie zu investieren", schreiben sie per Mail, es gehe einfach nicht mehr.

In den anderen Hütten im Alpstein wird das Ende der "Ära Knechtle" dagegen rege diskutiert. "Ich bin mit dem Bernhard in die Schule", erzählt eine Wirtin im Tal, und nach allem, was sie wisse, seien die Zustände da oben schon länger nicht mehr haltbar. Zu wenig Wasser, zu wenig Platz, Probleme mit dem Denkmalschutz. Dazu kritische Zeitungsberichte: Am Aescher müsse man nun zwei Franken bezahlen, wenn man ein Extrabesteck fordere.

Was von unten wie ein Skandal aussieht, lächerliche Geldmacherei, stellt sich oben so dar: Eine Servicekraft sitzt den ganzen Nachmittag in einer Ecke der voll besetzten Gastwirtschaft und poliert Besteck. Hier oben ist Wasser knapp, zur Reinigung reicht es gerade so aus, auf der Toilette gibt der Hahn sogar nur Wassernebel ab. Die Reisegruppen draußen, von der Gondelfahrt zur nahe gelegenen Ebenalp nicht gerade hungrig, stochern zu zweit oder dritt im Käserösti herum, jeder mit eigenem Besteck, klar.

Gastfreundlichkeit trifft auf Internethype

Die traditionellen Kartoffelpuffer sind zwar nicht billig, aber doch erschwinglich. Anders als manch andere Destination, die von Touristen überrannt wurde und dann so lange die Preise erhöhte, bis sich nur noch wenige den Besuch leisten konnten, ist der Aescher immer auch: eine traditionelle schweizerische Berghütte, in der die Regeln von Gastfreundlichkeit und Wanderern gelten. Wie es aussieht, wenn dieser Anspruch auf Internethype trifft, lässt sich ebenfalls am Aescher beobachten. Neben gelangweilten Influencern findet sich dort auch eine lebhafte Gruppe Schweizer Pensionäre, die seit Jahrzehnten hier oben Geburtstag feiert - und weder für exponentielle Preisentwicklung noch für kleinere Röstiportionen Verständnis hätte.

Und trotzdem. Dass die Gastwirtschaft am Aescher weiterbetrieben wird, bezweifelt niemand. Nur wenige Meter über dem spektakulären Gasthaus liegt das Wildkirchli. Ein paar Bänke, unter den Felsen geduckt, ein Altar, ein Kreuz. Wer unter Platzangst leidet, kann die Gottesdienste nicht besuchen. Dass sie trotzdem stattfinden, ist der Stiftung Wildkirchli zu verdanken, einer staatsnahen Einrichtung, vor mehr als 300 Jahren von einem Pfarrer gegründet, der die Einsiedelei und die alte Tradition der "Höhlenmessen" unterstützen wollte.

Auch das Gasthaus Aescher gehört der Stiftung. Während Familie Knechtle Investitionen forderte, drückte die Stiftung eher auf die Bremse. Man wolle hier oben "nicht alles machen", heißt es von der Stiftung, es sei schließlich "ein spezieller Ort" - und der finanzielle Spielraum begrenzt. Zumindest eine verbesserte Wasserversorgung aber stellt die Stiftung dem neuen Pächter in Aussicht. Schließlich werden auch im nächsten Sommer bis zu 250 000 Touristen hier oben Felsenwand und Bratwürste fotografieren wollen.

Es geht ja nicht nur dem Gasthof so. Mal am Trolltunga oder auf Santorin gewesen?

Ob die Schweizer Wanderer ihren Aescher dann noch wiedererkennen werden, ist fraglich. Schon jetzt ist der Ort ein anderer geworden, einer, der Ashton Kutcher ebenso sehr zu gehören scheint wie den Eremiten, die einst begannen, hier oben Erfrischungen zu verkaufen. Ein Schicksal, das das Berggasthaus mit manch anderen Destinationen teilt: So wurde ein pittoreskes Dorf im Tessin 2017 von einem Youtube-Star als "Malediven von Mailand" angepriesen - statt unberührter Felsen fanden die Reisenden bald darauf zugeparkte Wege und ein Dorf im Belagerungszustand vor. Auch aus anderen besonders fotogenen und angesagten Reisezielen hört man Klagen: Zur Sonnenuntergangszeit würde man auf der griechischen Insel Santorin schon mal von einer der malerisch weißen Steinwände geschubst. Die berühmten schwimmenden Schweine auf den Bahamas würden von Touristen fürs Foto mit allerlei Unsinn gefüttert (sieben Tiere starben), auf dem anstrengenden Weg zum malerischen Felsvorsprung Trolltunga in Norwegen gehen immer wieder Reisende verloren - vom langen Anstehen, das am Ziel der Wanderung auf die fotowilligen Reisenden wartet, war da noch keine Rede.

Wer nun glaubt, der moderne Tourismus mit seinen Hashtags, Instagramfiltern und dem niemals enden wollenden Strom an Selfies sei allein schuld, dass traditionsreiche Orte wie der Aescher leiden, sollte auf dem Weg zur Gondel nicht nur das Wildkirchli, sondern auch die dahinterliegende Höhle ansehen. Ein ausgeleuchteter Weg führt durch das unterirdische System, vorbei an Schautafeln, die von einer größeren Bärenkolonie berichten, die sich hier im Winterschlaf zurückzog. Durch ein breites Eingangstor fällt Tageslicht in die Höhle, Holzpfeiler stützen das Gestein. Hier habe man 1960 die Wege aufgesprengt, steht auf der Tafel. Die Touristen, die schon damals in Sonntagskleidung mit der Luftseilbahn angereist kamen, hatten sich beschwert, dass man beim Gang durch die Höhle dreckig werde. Seither ist das System einsturzgefährdet und muss gestützt werden. Kein Wunder, dass auch die Weisheit vom Touristen, der "zerstört, was er sucht, indem er es findet" (Hans Magnus Enzensberger) schon vierzig Jahre alt ist. Der Markusplatz in Venedig oder das Kolosseum in Rom sind ganz ohne Internet zu Paradebeispielen für "Overtourism" geworden. Zurück in die Schweizer Berge. Die letzten Meter zur Gondelbahn geht es noch einmal bergauf. Viele nutzen die Wiesen für eine letzte Pause, lassen das Bergpanorama auf sich wirken. Dieses Mal ohne Handykamera im Anschlag, der Aescher ist schließlich im Kasten. Gespräche sind kaum noch zu hören, gelegentlich murmelt jemanden neben einem im Gras zufrieden "hachja". Eine friedliche Stimmung - die sich auch auf den zahlreichen anderen Wanderwegen im Alpstein erleben lässt.

An der Gondel, die einen für knapp 20 Euro wieder ins Tal befördert, weisen zahlreiche Wegweiser nach oben: etwa auf den Säntis, mit 2500 Metern der höchste Berg im Alpsteingebirge. Warum nicht auch da noch hinauf? Viereinhalb Stunden dauert der Weg, beinhaltet neben vielen ermüdend steilen Strecken auch solche, bei denen man sich am Seil festhalten oder über Felsen klettern muss. Influencer kommen einem keine entgegen, was erstaunlich ist: Der Blick vom Gratweg ist fantastisch, auf einsamen Strecken laufen Murmeltiere und Steinböcke an einem vorbei. Kurz gesagt: Muss man gesehen haben.

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