Schweiz:Im Tal der schwarzen Ziegen

Ponte dei Salti über dem Fluss Verzasca

Eine Farbe wie auf den Malediven: der Ponte dei Salti über dem Fluss Verzasca.

(Foto: Ticino Turismo)

Mit den Malediven wurde der türkisblaue Fluss Verzasca im Tessin schon verglichen. Doch den Menschen im Tal wäre ein anderes Image lieber.

Von Stephanie Schmidt

Jeden Tag ab 17 Uhr scharrt Tobias Bührer sprichwörtlich mit den Hufen. Er wird dann ungeduldig, weil er sich sorgt, ob seine 18 Ziegen wohlbehalten nach Odro zurückkehren. "Mal kommen sie eine Stunde später, mal eine früher", sagt der Almwirt. Odro ist ein Maiensäss im Tessin - eine Alm auf 1240 Metern Höhe oberhalb des Örtchens Vogorno im Verzascatal. Tagsüber springen die Tiere frei auf den Steilhängen in dieser Gegend herum und fressen, was ihnen guttut - das sind Kräuter, Blätter, Baumrinde, Pilze, ja sogar Fliegenpilze. Kohlrabenschwarz sind diese Ziegen der für diese Region typischen Rasse Nera Verzasca. Die Tiere geben würzige Milch und sind widerstandsfähig: Hitze und Kälte machen ihnen nichts aus.

Vor einem Jahr krempelte Bührer sein Leben um. Der Musiker aus Winterthur wurde Käser und begann, sich um Almonda, Seraina, Raphael, Tosca und wie sie alle heißen zu kümmern: "Zu jeder Ziege habe ich eine persönliche Beziehung", sagt der 46 Jahre alte Wirt der Azienda Montana Odro. "Jeden Tag stellen wir den Frischkäse Büscion und den Mütschli her, das ist ein Halbhartkäse", erklärt er. Auch Gemüse aus dem eigenen Almgarten und Ziegenmilch-Schokocreme serviert er.

Eine Ziege trinkt aus dem Fluss Verzasca im Tessin.

Die Ziegenrasse Nera Verzasca spielte früher in der Region eine große Rolle.

(Foto: Tenero Turismo)

Wer seine Bioprodukte probieren will, muss sich das "erarbeiten". Denn Odro ist nur zu Fuß erreichbar, über einen Wanderweg, der von Vogorno steil nach oben führt. Von dort blickt man auf den Lago Maggiore und den künstlichen See Vogorno hinunter. Dessen 220 Meter hohe Staumauer ist berühmt, seit "GoldenEye" 1995 ins Kino kam: James Bond stürzt sich in dem Agentenfilm an einem Bungeeseil in die Tiefe.

Nie hätten die Menschen, die in den vergangenen Jahrhunderten im Verzascatal lebten, auf diese Art mit dem Tod gespielt, blickten sie ihm doch oft ins Auge. Wie sich Touristen auf ethnografischen Rundgängen in das Leben früherer Generationen hineinversetzen können, das hat in diesem Tal Vorbildcharakter. Odro ist in einen Lehrpfad eingebettet, der das Wildheuen thematisiert. Tagelang schnitten Frauen wie Männer im Sommer mit der Sichel an den schroffen Flanken des 2442 Meter hohen Pizzo Vogorno Grünzeug. Die Ballen beförderten sie an Heuseilen zu Tal. Eine Notwendigkeit. Denn die Wiesenflächen im Tal waren zu klein, als dass man das Vieh mit Futter hätte versorgen können. Eine gefährliche Arbeit, die noch bis in die Fünfzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts ausgeübt wurde - viele Hirten stürzten ab, manchmal auch eines ihrer Kinder, die sie mit nach oben nahmen.

Begegnet man heutzutage im Verzascatal Familien, so sind es meist Touristen, die auf dem Sentierone unterwegs sind, dem breiten Wanderweg, der einem alten Saumpfad folgend durch das gesamte Tal führt. Pozzi, natürliche Badebecken in der Verzasca, gibt es entlang des Wegs in Hülle und Fülle. Man sollte aber auf Stromschnellen achten, bevor man ins türkisfarbene Wasser springt, das um diese Jahreszeit eine Temperatur von nur circa zwölf Grad hat.

Je höher man kommt, desto mehr weitet sich das enge Tal und gibt den Blick frei auf Gipfel und nahezu senkrechte, mit Gras bewachsene Hänge. Nach dem Wildheu-Mähen schliefen die Einheimischen in Sprügh. So nannten sie im Tessiner Dialekt die Höhlen, die durch herabgestürzte Felsbrocken entstanden. Solche Sprügh kann man auf dem ethnografischen Rundgang durch das Tal Vegornèss besichtigen. Dieser beginnt in Sonogno, der mit 920 Metern höchstgelegenen Kommune.

Der Blick zurück soll in die Zukunft weisen

Ethnografische Wanderwege, Mountainbike-Parcours, Klettertouren oder gar ein Bungee-Sprung à la James Bond - vielfältige Möglichkeiten verlocken dazu, mehrere Tage in dem 25 Kilometer langen Tal zu verbringen. "Leider fahren viele Besucher nur zum Stausee und nach Sonogno, machen dort Selfies und verschwinden dann wieder", sagt Alessandro Speziali, 35. Im Auftrag der Stiftung Verzasca engagiert er sich seit wenigen Monaten dafür, dass die im Masterplan für das Valle Verzasca beschriebenen Projekte Realität werden.

Unbehagen bereiten ihm Ereignisse wie der Touristenansturm im Sommer 2017 auf den Ort Lavertezzo, wo sich die Ponte dei Salti über den Fluss spannt. Das im Internet veröffentlichte Kurzvideo "Die Malediven von Mailand" hatte ihn ausgelöst. "So etwas brauchen wir nicht", betont Speziali. "Wir wollen einen nachhaltigen Tourismus im Tal etablieren und Perspektiven für Leute schaffen, die dauerhaft hier leben", erklärt der Koordinator des Masterplans. Heute zählen die acht Kommunen weniger als 900 Einwohner. 4000 waren es noch im 17. und 18. Jahrhundert. Der detailliert ausgearbeitete Plan vernetzt ganz unterschiedliche Projekte. Ein zentrales ist das neue Verkehrskonzept, das Carsharing und E-Biking miteinbezieht und ermöglichen soll, dass man künftig auch abends mit dem Postauto ins Verzascatal hinein und wieder hinaus fahren kann.

Die Kommunalpolitiker sind stolz darauf, dass kein großes Hotel den ursprünglichen Charakter der Dörfer beeinträchtigt. Doch es mangelt an Herbergen. Ein zentrales Projekt des Masterplans ist Corippo, wo sich 70 ineinander verschachtelte Granitsteinhäuschen an einen Steilhang klammern. Nur zwölf Einwohner leben noch dort. Die Fondazione Corippo 1975 erwarb einige Häuser und begann, sie zu renovieren, um mit ihnen ein "Albergo diffuso", ein Hotel mit mehreren, verstreut liegenden Gebäuden zu realisieren. "Wir wollen die bestehenden Materialien verbauen", sagt der Präsident der Stiftung, Fabio Giacomazzi, 62. Der Architekt hat die Pläne für das Hotel entwickelt, das 2020 eröffnen soll. "Authentizität ist das Ziel. Wir werden auch die alte Mühle, den Brotbackofen und das Kastanien-Rösthäuschen integrieren, damit sich Gäste ein Bild vom früheren Leben der Menschen machen können."

Eine halbe Stunde fährt man mit dem Postbus von Corippo nach Sonogno zum Heimatmuseum Casa Genardini. Es ist eher eine feine, kleine Erlebniswelt für den Alltag, wie er in den Fünfzigerjahren und davor aussah. Mit interaktiven Angeboten und der Möglichkeit, Gerätschaften von früher, wie etwa die Kastanien-Röstpfanne, selbst auszuprobieren. "Wir können von unseren Vorfahren lernen, was nachhaltiges Leben bedeutet", sagt der 48 Jahre alte Leiter des Museums, Lorenzo Sonognini, und zeigt auf das ausgestellte Horn einer Nera-Verzasca-Ziege. Sie nutzten nicht nur das Fleisch oder Fell der Tiere. Ihre Hörner dienten Hirten als Instrument, um Botschaften zu übermitteln.

Schweiz: Der Architekt Fabio Giacomazzi setzt auf ursprüngliches Material, um mehr Touristen anzuziehen, die sich für das einstige Leben im Tal interessieren.

Der Architekt Fabio Giacomazzi setzt auf ursprüngliches Material, um mehr Touristen anzuziehen, die sich für das einstige Leben im Tal interessieren.

(Foto: Stephanie Schmidt)

Ein Teil der ständigen Ausstellung widmet sich dem Schicksal der Kaminkehrerjungen. Bitterarme Eltern schickten ihre Söhne einst in fremde Länder, wo sie unter elenden Lebensbedingungen die Schornsteine der Reichen reinigten. "Wir wollen die Erinnerung an die Spazzacamini wachhalten. Aber nur der Blick zurück ist für ein lebendiges Museum zu wenig", betont Sonognini, "deshalb organisieren wir ethnografische Veranstaltungen, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbinden." Wie das Projekt "Senti questa - Hör' mal das!" Dafür tauschten sich junge und ältere Einwohner zu Themen wie "Postauto", "Osteria" oder "Schule" aus. Ein kreativer Dialog: Neue Freundschaften entstanden - und eine temporäre Ausstellung.

Die Gespräche mit seinen Gästen fehlen Tobias Bührer im Winter: "Auf der Alm bestehen die Tage dann nur aus Holzhacken und Schnee schippen." Aber das Zusammensein mit den Ziegen entschädige ihn für vieles. "Wie sie es schaffen, ihre Kleinen allein auf die Welt zu bringen, da kommen mir jedes Mal die Tränen", sagt er. Nur einmal habe er am Kopf des Zickleins gezogen, um der Mutter zu helfen. "So war ich sogar schon als Hebamme im Einsatz."

Reiseinformationen

Anreise: Zum Beispiel mit der Bahn in gut sieben Stunden von München nach Locarno oder Tenero; von dort weiter per Postbus ins Verzascatal, www.ffs.ch.

Unterkunft: Über das Portal www.verzascarustici.ch kann man Steinhäuschen mieten; Preise je nach Saison. Ein Rustico für vier Personen kostet im Oktober zwischen knapp 1000 und 1300 Schweizer Franken (885-1150 Euro) pro Woche.

Gastronomie: Das Grotto al Bivio in Corippo, Via da Cà Vegn al Grot 69, ist bekannt für seine Käsespezialitäten und für sein Rotwein-Steinpilz-Risotto; Tel.: 00 41 / 91 746 16 16. In der Azienda Montana Odro gibt es auch selbst gebrautes Bier, www.odro.ch.

Weitere Auskünfte: www.ticino.ch, www.ascona-locarno-com, www.museovalverzasca.ch

Hinweis

Die Recherchereise für diesen Beitrag wurde zum Teil unterstützt von Veranstaltern, Hotels, Fluglinien und/oder Tourismus-Agenturen.

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