Süddeutsche Zeitung

Schweiz:Die Eisgenossen

Mehr als 130 Jahre lang wurde mitten in Davos auf der größten Natureisbahn Europas Schlittschuh gelaufen. Jetzt gibt es dort eine Art Spaßbad - aus Eis.

Von Dominik Prantl

Mal ehrlich, sieht so ein Traum aus? Gut, im Hintergrund machen ein Kirchturm und die Berge auf Schweizer Winterkulisse. Aber links, jenseits der Straße, stehen mehrstöckige Häuser wie Bauklötze, meist weiß, mal rot, mal grün und gelb; sie erzeugen eher Trabantenstadtflair als Bergdorfromantik inmitten dieses Zauberberg-Weltwirtschaftsforum-Ortes. Auf der anderen Seite thront die mehr als 6000 Zuschauer fassende Arena des örtlichen Eishockeyklubs HC Davos. Flutlichtmasten ragen wie riesige Wächter in die Höhe. Im Sommer ist hier ein Fußballfeld mit Tartanbahn außen herum. Jetzt, im Winter, liegt auf dem Sportplatz der neue Davoser Eis-Erlebnispark mit dem vielversprechenden, immer noch etwas arbeitstitelig klingenden Namen: "Eistraum".

"War auch ein Arbeitstitel", sagt David Soler, der Betriebsleiter. "Aber den haben wir dann einfach behalten." Man wollte mit dem Namen schließlich auch irgendwie eine Zeitenwende markieren, den überfälligen Quantensprung in die Ära des Spaß-und Erlebnisbades, nur eben mit gefrorenem Wasser. Wie Schwimmbecken verteilen sich die einzelnen Eisflächen, zu denen Eiswege wie Kanäle führen. Es gibt beispielsweise den an ein Planschbecken erinnernden Kleinkinderbereich namens "Gletscherspaß", in dem Mütter ihre Kinder auf Plastikrobben übers Eis schubsen und zwei übermotivierte Knirpse mit Schlägern auf einen Puck eindreschen. Fürs gemütlichere Publikum sind eher Zonen wie "Gletscherstock" oder "Gletschertanz" ausgelegt, für Hockeyspieler ist das "Gletscherspiel" reserviert. Der "Gletscherexpress" - ein zum Teil abschüssiger Parcours mit Startrampe und mehreren Kuppen, der nur mit Helm betreten werden darf - ist so etwas wie das Äquivalent zur heute in Familienbädern obligatorischen Rutschenwelt.

Gleichzeitig ist die künstlich angelegte Erlebnis-Eiswelt auch der Abschied von der alten und etwas fantasielosen Natureis-Freiluftbahn, quasi dem olympischen Schwimmbecken, um im Bild mit den Wasserwelten zu bleiben. Sie war die Vorläuferin des "Eistraums" und laut der Gemeinde Davos mit 18 000 Quadratmetern sogar die größte Natureisbahn Europas. Man darf das ruhig glauben, denn mit Eis kennen sich die Eidgenossen seit 150 Jahren aus. Auch wenn das in dem vom Bergbahngetöse vereinnahmten Alpentourismus manchmal untergeht, war der Wintertourismus der Schweiz in seinen Anfängen eher ein Eisspaßgewerbe, bevor er ein Skitourismus wurde. Curling, Skeleton und Eistanz hießen die Trendsportarten des späten 19. Jahrhunderts, nicht Freeriden, Snowboarden und Skitourengehen.

Früher konnte man an 100 Tagen aufs Natureis. Zuletzt waren es nur 16

In Davos etwa, wo die ersten Wintergäste laut Ortschronik genau am 2. Februar 1865 eintrafen, diente ab der zweiten Hälfte der 1860er-Jahre nicht die knapp 3000 Meter hohe Weissfluh als bevorzugtes Sportrevier, sondern der zugefrorene Davoser See. Der zog trotz der Entfernung zum Ortskern manche Gäste derart magisch an, dass sich beispielsweise im Dezember 1881 einige Zugereiste auf das noch brüchige Eis wagten und nur mühevoll mit Stangen und Stricken gerettet werden konnten. Es waren Holländer.

Dabei hatte sich zu jenem Zeitpunkt eine Allianz aus englischen Gästen, Hotel- und Pensionsbesitzern schon längst um die Schaffung von weniger gefährlichen Eisbahnen im Ort gekümmert: 1869 war deshalb die erste kleine Eisbahn im Garten des Kurhauses entstanden, 1881 wurde bereits eine 6500 Quadratmeter große Natureisbahn am heutigen Standort des "Eistraums" in Betrieb genommen. Im Laufe der Jahre wuchs Davos immer näher an das Areal heran, es entstanden Bergbahnen und der Hockeyklub, das Fußballfeld und das Weltwirtschaftsforum. Die sukzessive vergrößerte Freilufteisbahn entwickelte sich zum Schauplatz von Weltcups, Weltmeisterschaften und mehr als 90 Eislaufweltrekorden. Sie folgte aber weiterhin dem Rhythmus der Jahreszeiten, wurde mit Schnee und Wasser jede Saison aufs Neue aus dem Boden gestampft, um im Frühjahr dann wieder dem Fußballfeld Platz zu machen - bis das Projekt Natureisbahn nach dem vergangenen Winter endgültig infrage gestellt wurde.

Die Stromkosten betragen für vier Betriebsmonate rund 150 000 Franken

So paradox das auch klingen mag: Der neue "Eistraum" ist keineswegs nur ein Zugeständnis an die heutige Spaßgesellschaft, sondern vor allem eine Reaktion auf die immer weniger eisigen Temperaturen. Anders als bei der alten Eisfläche verlässt man sich nicht mehr auf die Natur, die mit viel zu späten Schneefällen und plötzlichen Wärmeeinbrüchen die Bilanz verhunzte. Zwei Trafostationen mit vier Kälteanlagen machen den Winterbetrieb heute berechenbarer. Denn nachdem das alte Eisfeld noch bis in die 1950er-Jahre fast immer mehr als 100 Tage und selbst in den 1980ern regelmäßig für drei Monate betrieben werden konnte, ging es in den vergangen zehn Jahre rapide bergab. Der Kassensturz der Saison 2015 / 2016 brachte einen klaren Negativrekord: 4583 Gäste bei nur 16 Betriebstagen.

Soler sagt: "Wir mussten uns etwas überlegen", wobei in die Überlegungen eine Gästebefragung in Davos und eine eigens in Auftrag gegebene Studie der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Chur einflossen. Es sei dabei schnell klar geworden, dass man der Eistradition treu bleiben wollte. Neben der Erlebniswelt standen zunächst auch eine große Eishalle und ein Eisschnelllaufzentrum zur Diskussion. Die Halle scheiterte vor allem an den hohen Kosten, die zweite Option war noch schneller vom Tisch: In der Schweiz gibt es keine zwei Dutzend lizenzierte Eisläufer.

Der "Eistraum" dagegen hat florierende Vorbilder. Die gleichnamige Eislandschaft auf dem Wiener Rathausplatz verzeichnete im vergangenen Winter 700 000 Besucher - bei einer Größe von 8500 Quadratmetern, was etwa einem Fußballfeld entspricht. Auch das "Ice Magic" in Interlaken lockte in den ersten zwei Jahren seines Bestehens insgesamt 137 000 Interessierte - und damit in etwa so viele wie die Davoser Natureisbahn seit 2005.

Dort hat man mit dem "Eistraum" schon jetzt das kalkulierte Ziel von 30 000 zahlenden Gästen zu zwei Dritteln erfüllt - bei einem regulären Eintrittspreis von neun Franken. Soler sieht trotz des Verbesserungspotenzials in der Architektur des Parks ("Beim 'Gletscherexpress' hätte man die Startrampe etwas höher bauen können") bereits viel mehr Neugierige, "die das einfach einmal ausprobieren". Allerdings sind auch die Ausgaben mit 830 000 Schweizer Franken ein ganzes Stück höher als früher - schon alleine wegen der Stromkosten von geschätzten 150 000 Franken pro Winter.

Ob so ein Traum aussieht? Keine Ahnung, aber wenn man dann anfängt zu laufen, und sei es das erste Mal seit zwei Jahrzehnten, im Kreis und über Rampen, immer schneller, dann fangen die Bauklötze und die Flutlichtmasten und die Arena an zu verschwimmen. Sie stören nicht mehr.

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Quelle:
SZ vom 09.02.2017/ihe
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