Freeriden in der Schweiz:Abfahren auf der Giraffe

Andermatt Freeriden Gemsstock

Andermatt Freeriden Gemsstock Andermatt Freeriden Gemsstock - Foto bearbeitet

(Foto: Hans Gasser)

In der Serie "Winterberge" stellen wir die schönsten Hänge für jede Sportart vor. Diesmal: Der Gemsstock in Andermatt bietet einige der spektakulärsten Freeride-Abfahrten der Schweiz - mit tierisch gutem Namen.

Von Hans Gasser

Was eine Giraffe auf einem Berg zu suchen hat, der doch eigentlich für seine Gämsen bekannt ist? Deshalb heißt er ja seit ewigen Zeiten Gemsstock und nicht Giraffenstock. Solcherart Widersprüchliches geht einem kurz durch den Kopf, während man dem Bergführer Matthias Gamma hinterherfährt, weg von der Piste, steile Nordhänge querend, um dann über einen schmalen Grat zu fahren, auf dem gerade mal die zwei ziemlich breiten Skier nebeneinander Platz haben.

Gamma stoppt auf dem Grat, gibt seinen Gästen die Anweisung mit ausreichend Sicherheitsabstand, also erst dann zu fahren, wenn der Vordermann hinter dem Fels da unten verschwunden ist. Okay. Schließlich sind wir hier in der "Freeride Academy", und das bedeutet auf knapp 3000 Metern über dem Meer bei einer Gesamtschneehöhe von rund fünf Metern: Tu alles, was dein Bergführer sagt! Als man hinter dem Fels angekommen ist, geht der Blick in ein ziemlich steiles, schattiges Couloir, also eine lange Rinne, gefüllt mit feinstem Pulverschnee. Man begreift, weshalb die Freerider die Abfahrt Giraffe genannt haben: Die Rinne geht über in andere steile Rinnen, die bis ins Unteralptal führen. Fast 1500 Höhenmeter Abfahrt vom Gipfel des Gemsstocks sind das: wie ein weißer, schneegefüllter Giraffenhals.

Der Gemsstock, mit 2961 Metern fast exakt so hoch wie die Zugspitze, ist der Hausberg von Andermatt, dem Ort am Fuß des Gotthard-, Oberalp- und Furkapasses. Der hat in den vergangenen Jahren vor allem dadurch Schlagzeilen gemacht, dass der ägyptische Investor Samih Sawiris hier ein Ferienresort vom Reißbrett weg plant: Luxushotels, Golfplatz, große Appartement-Anlagen, insgesamt bis zu 4000 Betten. Die Skigebiete von Andermatt und des hinter dem Oberalppass gelegenen Sedrun hat er auch gekauft, der Zusammenschluss der Lifte soll noch in diesem Jahr fertiggestellt werden. 120 Pistenkilometer.

Innerhalb dessen ist der Gemsstock bergmäßig der eindeutige Anführer und gleichzeitig Außenseiter. Seine großteils steilen und nordseitigen Hänge sind nichts für Anfänger und schon gar nichts für Freunde perfekt gewalzter Pisten. Von denen gibt es hier zwar auch zwei schmale, eine rote und eine schwarze. Doch die wenigsten Skifahrer kommen nur ihretwegen die 1500 Höhenmeter mit der Seilbahn herauf. Die meisten suchen hier den frischen Pulverschnee, um nach Möglichkeit als Erste eine schöne "Line" darin zu ziehen. In der Schweiz ist der Gemsstock einer der besten Freeride-Berge.

Das liegt zum einen an der geografischen Lage und zum anderen an Carlo Danioth. Er ist der Pistenchef und damit auch zuständig für die Lawinensprengungen. "Im Verhältnis zu den Pistenkilometern haben wir hier am Gemsstock wohl die meisten Sprengungen im gesamten Alpenraum", sagt Danioth, der gleichzeitig auch Bergführer und Chef der Pistenrettung ist. 80 bis 100 einzelne Sprengungen müssten nach Tagen mit starkem Schneefall und Wind manchmal gemacht werden, viele davon auf Tourenskiern und per Hand. Dabei sind ihm schneereiche Winter wie dieser viel lieber als schneearme. "In denen ist die Lawinensituation viel heikler, weil eine dünne Schneedecke leichter gestört werden kann als eine dicke." Gesichert durch Sprengungen werden allerdings nur die Pisten und die eingezeichneten Skirouten. Klassische Freerideabfahrten wie die Giraffe, das Felsental und das Guspistal würden nicht gesichert. Hier braucht es Erfahrung - oder einen Bergführer.

Zum Beispiel einen wie Dan Loutrel. Gebürtig aus Boston, kam er vor Jahren in die Schweiz und ist in Andermatt hängen geblieben, ein hagerer, bärtiger und gewinnender Mittdreißiger. Er hat zusammen mit dem maßgeblichen Andermatter Sportgeschäft die "Freeride Academy" gegründet. Das ist eine Reihe von Kurstagen, an denen junge Bergführer einer noch jüngeren Klientel Lawinenwissen und Skitechnik im sehr steilen Gelände vermitteln oder einfach nur die besten Powder-Hänge zeigen. "Das Interesse am Freeriden ist in den vergangenen Jahren sehr stark gewachsen", sagt Loutrel, "da wollten wir Anfängern diese Möglichkeit bieten: Sicherheit und guten Schnee." Er selbst lebt winters fast nur noch von den Freeridern, wie viele andere Bergführer hier auch.

Und wie viele andere kann er es sich nicht mehr leisten, hier oben im Ort zu wohnen, denn der wird seit Beginn des Sawiris-Projektes immer teurer. "Freeriden ist natürlich nicht die billigste Sportart, aber meine Gäste sind ganz normale Mittelklasse", sagt Loutrel, der Schweizerdeutsch mit amerikanischem Akzent spricht. Für solche Gäste gebe es bald keine bezahlbaren Appartements mehr. "Da müssen der Ort und die Skiarena aufpassen, dass sie auch das mittlere Segment bedienen, sonst können sie viel verlieren."

Ein Freerider verliert im schlimmsten Fall sein Leben, und weil das ein viel zu hoher Einsatz für ein bisschen Spaß ist, fragt der Bergführer Matthias Gamma, der eben noch die achtköpfige Gruppe in wirklich schöne, steile und wenig zerfahrene Hänge geführt hat, beim Mittagessen in der Gadä Bar: "Weiß jemand, was heute im Lawinen-Bulletin steht?" Zunächst Schweigen. Dann Grinsen. Jemand sagt: "Stufe 3." "Nein, Stufe 2", ruft eine andere. "Und was bedeutet das?", fragt der Bergführer. Wieder Schweigen.

Dann erklärt er, was das bedeutet, wie Wind, Wetter und Hanglage die Lawinenentstehung beeinflussen. Er schlägt vor, eine kleine Suchübung im Trainingszentrum an der Gurschenalp zu machen, was zunächst auf wenig Begeisterung stößt. Schließlich heißt das gebuchte Programm "Freeridetag", und man will möglichst viel fahren fürs Geld. Dann entscheidet sich aber doch die Mehrheit für eine Übung. Und erfährt dort, dass es mit den neuen LVS-Geräten zwar relativ schnell geht, einen Verschütteten zu lokalisieren. Um ihn aber tatsächlich mit der Sonde zu finden und dann so schnell wie möglich auszugraben, bedarf es einer gut einzuübenden und kraftsparenden Technik.

"Wenn der Gemsstock voll mit frischem Schnee ist", sagt Gamma später, "und du lässt deine Gruppe morgens eine Stunde lang die Lawinensuche üben, dann hast du sicher bald keine Gäste mehr." Was er damit meint: Ähnlich wie beim Surfen, wo die besten Wellen hart umkämpft sind, geht es beim Freeriden eben darum, den schönsten Tiefschnee als Erster zu befahren, wenn er frisch und weich ist und diesen Flow erzeugt, der alle möglichen Glücks-Botenstoffe im Gehirn ausschüttet. Manchen geht es dabei auch vor allem um das Adrenalin, wenn sie extrem steiles Gelände befahren und über meterhohe Felsen springen. Das ist aber eine Minderheit.

Den letzten Kilometer fährt man über die gesperrte Passstraße bis vors Gasthaus

Für den Genießer, dem eh die Oberschenkel brennen und der am Gipfel des Gemsstocks mit 80 Gleichgesinnten aus der Seilbahn steigt, lohnt es sich, die anderen fahren zu lassen und in der rohbauartigen Bergstation die Treppen auf die Dachterrasse hinaufzusteigen. Eine leere, windige Betonfläche, von der man aber ungestört in die Urner, Tessiner und die Walliser Berge schauen kann. Über den großen und dick verschneiten Basodino-Gletscher geht der Blick bis zum Monte Rosa und zum Dom, den zwei höchsten Bergen der Schweiz. Der Gemsstock, so Pistenchef Danioth, bekommt die Niederschläge vor allem durch Genuatiefs, weil er so weit südlich liegt. Mit dem Auto sind es von hier nach Mailand nur zweieinhalb Stunden.

Aber was soll man in Mailand, wenn man noch nicht durch das Felsental und das Guspis gefahren ist, zwei Klassiker, jeweils 1500 Höhenmeter hochalpine Abfahrten? Besonders Guspis lohnt die Mühe eines Gegenanstiegs von 100 Höhenmetern, die man im tiefen Schnee hochstapfen muss.

Ist das geschafft, warten elf Kilometer Abfahrt durch ein Hochtal über wenig schwierige, breite Hänge, vorbei an einem Bergsee, der unter dem Schnee nur zu erahnen ist, bis hinunter auf die gesperrte Gotthard-Passstraße. Auf ihr fährt man bis ins schöne Dorf Hospental. Bevor es mit Bahn oder Bus zurück nach Andermatt geht, kehren viele Freerider im Gasthaus St. Gotthard ein, erbaut 1722. Die Geschichten, die sie mit geröteten Wangen in der Holzstube erzählen, sie mögen Außenstehenden seltsam und erfunden erscheinen, handeln sie doch von meterweise Schnee und Giraffen, die sich darin herumtreiben sollen.

Hinweis

Die Recherchereise für diesen Beitrag wurde zum Teil unterstützt von Veranstaltern, Hotels, Fluglinien und/oder Tourismus-Agenturen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: