Temagami (dpa/tmn) - Winzige Wellen glucksen an Felsen. Ein Windhauch fährt durch Blaubeersträucher, spielt in Birken- und Kiefernzweigen. Ansonsten ist es still und alles weit weg. Termine, Zwänge, das Handynetz, die Krisen dieser Welt.
Die Friedensstimmung könnte schöner kaum sein als auf diesem einsamen, namenlosen Inselchen im Wildnisgebiet Temagami. Im letzten Camp der Reise fühlt man sich in einem Kokon der Geborgenheit. Diese Momente des Glücks sind die ganzen Schweißströme wert gewesen, die Schmerzen in Armen und Schultern.
Selbst Mücken und Stechfliegen lassen in diesem Moment Gnade walten. Durch den Zelteingang blinzelt man in die Abendsonne und verfolgt die Manöver der Seetaucher auf dem Wasser, der für Temagami so typischen Vögel. Ihre Rufe hallen später gespenstisch durch die Finsternis.
Doch man selber erdet sich - im übertragenen Sinne und auch buchstäblich: auf einer Schlafmatte mitten im Nirgendwo aus Wasser und Wäldern, so wie in jeder Nacht zuvor auf der Fünftagestour, die uns 75 Kilometer im Kanu durch diesen Teil von Kanadas Südosten geführt hat. Aber von Anfang an:
Auftakt im Regen (1. Tag: 11 Kilometer):
Temagami ist ein Provinznest. Zur Orientierung: Ottawa und Toronto, die nächsten bekannten Großstädte liegen jeweils rund 450 Kilometer Autostrecke von hier entfernt. Die motorisierte Anfahrt im Van zum Nordostarm des Temagami-Sees: ernüchternd. Es regnet in Strömen.
Die Tragepassage von Equipment und zwei Doppelkanus zum Ufer gerät zum ersten Belastungstest, bevor man überhaupt einen Paddelzug getan hat. Zelte und Gepäck sind in wasserdichten Säcken verstaut, die Vorräte in einer bleischweren Tonne.
Die Minigruppe besteht aus drei Teilnehmern und Naturguide Mitch Bowmile, 27, der aus Ontario stammt.
Verhüllt in Ponchos geht es an einem Strandstreifen los. Der Einschlag der Tropfen auf dem Wasser gleicht einer Abfolge aus Detonationen. Bewaldete Halbinseln schieben sich vor. Felshöcker buckeln sich wie Schildkrötenpanzer auf.
Mitch navigiert mit digitalen Karten, die er sich heruntergeladen hat. Ansonsten stehen alle Zeichen auf „offline“. Genau das, was man wollte: digitale Entgiftung, einfach abschalten.
Eine Tragepassage an diesem ersten Tag hat es in sich, gut 700 teils steile Meter. Einmal hin zum nächsten Seearm, zurück, wieder hin. Es gibt viel zu schleppen, das schafft man nicht auf einmal. Mitch zwingt alle, Sandalen gegen stabiles Schuhwerk zu tauschen. Er hat Recht. Es ist steinig und schlüpfrig, jede Wurzel eine Stolperfalle.
Zurück auf dem Wasser jagt ein Schauer den nächsten. Bei schönem Wetter paddeln kann jeder, redet man sich ein. Vielleicht wird man zumindest den Blick auf ein paar wilde Tiere erhaschen? Mitch bremst aber die Hoffnung auf spektakuläres Wildlife. Schwarzbären habe er noch nie hier gesehen, Elche selten.
Am Nachmittag ist das Camp erreicht, ein auf wenige Zelte ausgerichtetes Terrain, etwas erhöht vom See. Kanus entladen, Zelte aufbauen. Moskitos schwirren umher. Die Feuerstelle ist hoffnungslos nass. Mitch wirft den Gaskocher an, bereitet Bratwürste und Kartoffeln zu und frohlockt mit guten Wetteraussichten ab morgen. Das Regentrommeln auf dem Zeltdach wiegt in den Schlaf.
Entschleunigung bei 4 km/h (2. Tag: 20 Kilometer):
Goldgelb überzieht die Morgensonne die Baumwipfel, in denen Dunstfetzen hängen. Mitch hat nicht zu viel versprochen. Und es gibt etwas Wildlife: Frühstücksgast ist ein Eichhörnchen, doch die Bagel mit Frischkäse verschlingen wir selbst. Die Kanugefährtinnen Shawna und Vickie freut, dass ein Waldpfad zur „Thunderbox“ führt, einer hölzernen Donnerbox für menschliche Geschäfte.
Mitch stimmt auf drei Tragepassagen an diesem Tag ein, davon die erste zum Diamond Lake, dem „Diamantensee“, wo die Farbe zwischen Dunkelgrün und Blau changiert. Unterwegs kommen Paddler entgegen. In der Ferne zerreißt ein Motorboot die Ruhe, dann ein Wasserflugzeug. Schade, aber zum Glück kein Dauerzustand. Dann gleitet man fast lautlos voran. Entschleunigung bei 4 km/h.
Kiefern und Felsen nehmen Spiegelbäder. Weißkopfseeadler ziehen ihre Kreise. Mittlerweile sind alle Sachen getrocknet.
Nass werden sie nur wieder vom Schweiß, durch die zehrenden Tragepassagen an Land. „Wer sagt, er mag das, der lügt“, sagt Mitch. Das sei harte Arbeit. Aber, und damit hat er auch Recht: „Am Ende wartet immer ein wundervoller See.“
Ein Abendbad beim Camp spült den Schweiß vom Körper, der nach Vitaminen giert. Doch Pech gehabt. Mitch hat zwar eine Packung Marshmallows fürs Lagerfeuer dabei und Gläser mit Erdnussbutter, aber nur zwei Äpfel. Das mag nur verstehen, wer Nordamerikaner ist.
Biberdämme und Schaumkronen (3. Tag: 9 Kilometer):
Das Flüsschen Wakimika löst sich vom gleichnamigen See, windet sich an Farnen und leuchtgrünen Ufergräsern entlang. An Totholz spreizen sich Äste wie Fischgräten ab. Libellen tanzen. Baumstämme und Biberdämme liegen als Hindernisse im Wasser. Die Kanus streichen über Teppiche aus Pflanzen.
Es ist einer der schönsten Abschnitte auf der Tour, die sich heute auf ein geringeres Tagespensum reduziert als geplant. Denn voraus trägt der Lake Obabika Schaumkronen, das Wasser ist aufgewühlt.
Es paddelt sich mühsam durch kleine Wellentäler auf die Seeseite gegenüber. Einige Liter schwappen über die Kanuspitze. Das Wetter droht zu kippen, der Himmel wird schwarz. Weiterfahren im Kanu? Undenkbar, weil zu gefährlich.
Nach der Anlandung an glitschigen Felsen verkriecht sich jeder im Wald in seinem rasch aufgebauten Zelt, bis das Gewitter vorüber ist. Zeit zur Entspannung, für ein Buch, für den Fluss der Gedanken. Mitch brüht einen Tee aus Zedernnadeln auf. „Das haben schon damals die Indigenen und frühen Siedler getrunken“, sagt er.
Die Sonne kehrt zurück und taucht die Borke von Amerikanischen Rot-Kiefern in flammenden Glanz. Die Donnerbox hat heute sogar Seeblick; das Gewässer schimmert durch die Bäume.
Stimmen von Indigenen (4. Tag: 16 Kilometer):
Der Lake Obabika ist die Heimat von Alex Mathias. Er gehört zu den Ureinwohnern Teme-Augama Anishnabai, die auch als „Temagami First Nation“ bekannt sind.
„Hier mache ich die Regeln, die Gesetze“, sagt Mathias. Gegen den Widerstand der Behörden verließ er einst das Reservat der Indigenen auf Bear Island im Temagami-See und baute sich auf dem altangestammten Land eine Holzhütte. Er jagt Biber und Elche, macht aus dem Fleisch gerne Burger.
„Ich bin der Einzige, der noch auf dem Terrain der Vorfahren lebt. Das ist mein Recht“, sagt der 74-Jährige, der als einer der Letzten die alte Sprache der Ureinwohner beherrscht.
Eine Begegnung mit ihm und Raymond Katt (61), der als Berater für Sucht und mentale Gesundheit im Reservat auf Bear Island wohnt, konfrontiert mit einem schmerzlichen Thema in Kanada: der Ausgrenzung und Diskriminierung der Indigenen in Geschichte und Gegenwart.
Katt bedauert es, die Sprache nicht mehr zu kennen, und holt aus: „Wir haben die Sprache durch die Kolonialisierung verloren. Unsere Eltern wurden bestraft oder Gehirnwäschen unterzogen, wenn sie die Sprache benutzten.“ Er ist stolz auf die Rückbesinnung der alten Identität, deren Wurzeln „ewig“ zurückreichen, wie er sagt.
„Unsere Existenz mussten wir aber vor den Gerichten beweisen“, prangert Katt an und fühlt sich bis heute von Politik und Behörden im Stich gelassen: „Die haben noch immer die Kontrolle über unsere Territorien und nehmen uns die Ressourcen weg. Das ist unser Land.“
Die Begegnungen wirken nach auf dem Obabika-See, wo uns Rückenwind bis zur letzten Transportpassage voran pustet. Dahinter öffnet sich eine Bucht, die wunderbar mit Seerosen gefüllt ist. Über dem Camp auf dem einsamen Eiland liegt nichts als der Klang der Stille.
Abschied (5. Tag: 19 Kilometer):
Früh raus aus den Schlafsäcken. Nebel wabert über dem Wasser. Kaum zwei Stunden für Campabbau, Frühstück und Kanubeladung bedeuten eine Rekordzeit für das Paddlergrüppchen. Langsam gilt es, Abschied zu nehmen von Inselwelten, Seetauchern und bewaldeten Landzungen.
Auf dem Temagami-See rückt die Grenze der Zivilisation näher. Häuser liegen im Grün, der Motorbootverkehr nimmt zu. Man könnte auch sagen: Der Zauber ist vorbei. Ein glanzloser Seehafen setzt den Schlusspunkt.
Dorthin kommt der Transporter zur Rückkehr ins Basislager. Zum Empfang gibt es Kaffee und Strudel. Unterwegs wird man von alldem überrollt, was fünf Tage lang ausgeblendet gewesen ist. Handyempfang. Musik aus dem Radio. Asphalt. Werbetafeln am Highway.
Was bleibt, ist der Heißhunger auf Vitamine - und vor allem die Erinnerung an die letzte Traumnacht auf einer einsamen Insel.
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