Schottland:Tattoos und große Karos

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Im Sommer wird ganz Edinburgh zur Festivalbühne. Künstler aus aller Welt bieten Traditionelles und Avantgardistisches dar. Und Talentscouts halten in Theatern und auf den Straßen nach den Stars von morgen Ausschau.

Von Verena Wolff

Wenn Brigadier David Allfrey im August abends auf der Esplanade steht, dem großen Platz vor dem Edinburgh Castle, umringt von Tausenden Besuchern, dann hat er den Großteil seines Jobs erledigt. Dann ist die Choreografie für die Teilnehmer des "Royal Edinburgh Military Tattoo" einstudiert. Die Lichtershow an der Burgmauer ist durchgeplant, ebenso das allabendliche Feuerwerk. Viel Aufwand und Projektmanagement steckt hinter dem jährlich stattfindenden Traditionsevent: Neben dem aktuellen Festival plant der Chief Executive bis zu zwei Jahre im Voraus, um die interessantesten Gastmusiker zu bekommen.

Und dennoch ist Allfrey da, jeden Abend. Und er ist nicht zu übersehen, obwohl er von ganz normaler Statur ist. Zwar trägt er keinen Kilt und keinen Dudelsack, doch sein Beinkleid ist mindestens genauso auffällig: Er trägt eine lange Hose im Tartan, dem Schottenmuster. Und zwar ein Besonderes in Rot, Blau und Grün: das Tattoo Tartan. Nicht nur die Clans haben in Schottland ihre eigenen Muster und Farben, sondern auch dieses Großereignis, das alljährlich Hunderttausende Menschen in die schottische Hauptstadt lockt.

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Wenn der Sommer kommt, dann kommen auch die Festivals nach Edinburgh. Nicht nur das Tattoo, sondern gleich eine Handvoll andere dazu. Das Jazz Festival. Das Art Festival. Das International Book Festival. Das Fringe Festival. Das International Festival. Die sonst eher verschlafen wirkende Stadt mit ihrer imposanten Burg am Ende der Royal Mile ist auf einmal bunt, laut und trubelig. An jeder Ecke wird gespielt, gelesen, getanzt. An vielen Orten sieht man zu jeder Tages- und Nachtzeit Menschen, die auf Einlass warten oder Straßenkünstlern auf der Royal Mile zuschauen. Wenn das Wetter mitspielt und sich der schottische Sommer von seiner angenehmen Seite zeigt, dann ist tatsächlich die ganze Stadt ein großes Theater.

Begonnen hat das alles 1947. Nachkriegswirren gab es überall in Europa, das Geld war knapp, die Stimmung bedrückt. Schon im Zweiten Weltkrieg war die Idee entstanden, in Edinburgh ein Festival für klassische Musik abzuhalten - zwei Jahre nach Kriegsende wurde daraus das International Festival. Die Zahl der eingeladenen Künstler war übersichtlich.

Doch findige junge Künstler anderer Sparten machten sich ebenfalls auf in die Stadt und gaben ihre Musik und ihre Aufführungen zum Besten. Die Kulturbegeisterten waren da, dachte man sich. Warum also sollte man diese Atmosphäre nicht ausnutzen? Aus diesem inoffiziellen Festival im Festival ist über die Jahrzehnte das weltgrößte Kunstfestival erwachsen, das "Fringe". Der Name erinnert an die Anfänge: Am Rand des großen, organisierten Events, "in the fringes" spielten die jungen Kreativen. Heute gibt es an die 3500 Shows mit 50 000 Vorstellungen an mehr als 300 Veranstaltungsorten.

Alles kann zur Bühne werden: ein Pub, ein Auto, eine Telefonzelle. Die Scotch Malt Whisky Society oder die Assembly Hall. Und wer beim Fringe nicht mitmacht, der kann weiterhin als Straßenkünstler auftreten. Das wissen auch die zahlreichen Talentscouts, die im August in Edinburgh unterwegs sind und sich in der Szene umschauen.

Und das Tattoo? Militärmusik? Dieses Festival hat einen ähnlichen Hintergrund wie das International Festival. Denn: Das Militär war eine der wenigen Institutionen, die nach dem Krieg funktionierende Instrumente hatten. "Something about a Soldier" hieß eine Show im Jahr 1949, die am Ross Bandstand in den Princess Street Gardens gespielt wurde. Ein Jahr später fand das erste Tattoo auf der Esplanade vor der Burg statt. Mit Tätowierungen hat die Veranstaltung im Übrigen nichts zu tun: Die Bezeichnung geht auf den Ausdruck "tap toe" zurück, mit dem man im 17. und 18. Jahrhundert in den Kneipen darauf hinwies, dass Sperrstunde ist.

Die Massed Pipes and Drums mit ihren typisch schottischen Dudelsackklängen gehören bis heute dazu. Auch kommen nach wie vor Militärmusiker aus vielen Ländern. Doch das Tattoo ist kein Militärmusik-Festival, im Gegenteil. Zu den Gästen gehörten schon Gruppen wie The Cook Islands National Youth Dance Team, die iNgobamkhosi Zulu Dance Troop oder Te Waka Huia and Te Whanau a Apanui and The New Zealand Highland Dancers. Klar, dass Brigadier Allfrey, lange Zeit selbst aktiver Soldat, genauso Militärkapellen einlädt, aus den Commonwealth-Staaten wie aus anderen Ländern.

Doch was die mitunter zum Besten geben, treibt auch dem kühlsten Zuschauer ein Lächeln ins Gesicht: Da bringt eine Band von den Bermudas Steeldrums mit und spielt in Bermuda-Shorts den Evergreen "Rivers of Babylon". Da stellt sich eine unscheinbare Soldatin aus Neuseeland plötzlich als Musical-Talent heraus. Für den einen oder anderen Aha-Moment ist also gesorgt. Und: Noch nie in der 68-jährigen Geschichte ist auch nur eine Vorstellung ausgefallen, seit 20 Jahren ist jede Show ausgebucht. Jeden Abend um 21 Uhr spielen die Musiker, dieses Jahr vom 2. bis 24. August. Täglich außer sonntags, am Samstag sogar zwei Mal hintereinander. Ob es regnet, windet oder der Himmel klar ist - der launische schottische Sommer trägt in jedem Fall seinen Teil zum Erlebnis Tattoo bei.

Die Zuschauer jedenfalls sind für alles gerüstet - auch sie lassen sich die Show nicht nehmen, die Karten kosten immerhin zwischen 22 und 90 Pfund. Seit den Anfangsjahren haben mehr als 14 Millionen Menschen das Tattoo in Edinburgh gesehen, jedes Jahr wohnen etwa 220 000 Zuschauer den Vorstellungen auf den Rängen bei, die schon im Frühjahr errichtet werden. Und sie alle können sich sicher sein, dass an einem nicht gerüttelt wird: dem Ende der Veranstaltung. Das besteht aus der Nationalhymne, dem schottischsten aller Lieder, "Auld Lang Syne" aus der Feder von Robert Burns, und einem Lamento, das ein "Lone Piper", ein Dudelsackspieler, auf der Mauer der Burg spielt. Und dann ist auch David Allfrey auf den Rängen zu finden, mitsingend und mit einem Lächeln auf den Lippen.

© SZ vom 10.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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