Ein Weiß, das minimal ins Graue und ins Beige läuft. Der Übergang von der Erde zum Himmel ist auf dieser Aufnahme kaum auszumachen, eine Horizontlinie bestenfalls zu ahnen. Der Schnee im Vordergrund weist an der Oberfläche immerhin eine wahrnehmbare Struktur auf. Kleine Hügel, kleine Mulden. Und obwohl die Sonne verborgen bleibt hinter einer Wolkenwand, die selbst ebenfalls keine Nuancen in ihrer Weißgrau-Tönigkeit aufweist, fällt auf die eine Seite der Erhebungen im Schnee Licht, die andere liegt jeweils im Schatten. So schält sich, kaum merklich, doch eine Landschaft aus dem vermeintlichen Nichts. Weiter hinten im Bild gibt es eine dunkle Barriere, wahrscheinlich ein kleiner Waldsaum.
Die zweite Fotografie ähnelt der ersten, im Vordergrund gibt es noch weniger Unebenheiten im Schnee, also noch weniger Struktur. Dafür sind in der Bildmitte ein paar Halme eindeutig identifizierbar. Auf dem dritten Bild in der Ferne ein Wäldchen, etwas klarer konturiert als auf den Aufnahmen zuvor, trotzdem nach wie vor recht schemenhaft. Dann, auf der nächsten Fotografie, ein erstes Zeugnis von Zivilisation, eine Überlandleitung, auf Holzpfählen, im Nichts verschwindend. Irgendwann auch: Gebäude, landwirtschaftliche Geräte, Bäume, die sich aber alle nur mühsam aus dem Weiß des erbarmungslosen Winters herausschälen, gespensterhaft bleiben, kaum manifest werden. Bis, bamm, ein Krähenvogel durch eine der Szenerien fliegt. Nachtschwarz, eine greifbare Gestalt, endlich, die Behauptung von Leben in einer lebensfeindlichen Umgebung.

All diese Aufnahmen stammen von Angela Boehm, einer kanadischen Fotografin, die in der Provinz Saskatchewan aufgewachsen ist. Es ist Prärieland, extrem dünn besiedelt. Und aufgrund der Lage im Landesinneren ist das Klima kontinental, die Winter sind extrem kalt, extrem hart. „Minus 30“ heißt ihr Fotoband. Und man weiß als Betrachter nicht, was einem mehr zusetzt: die erkennbare Kälte oder die Verlorenheit. Wie kommt man überhaupt an die Orte, an denen die Fotografien entstanden sind, und wie findet man wieder zurück in die Geborgenheit einer beheizten, wenigstens entfernt in die Zivilisation eingebundenen Behausung?

Zwar sind ab und an Häuser zu sehen auf den Aufnahmen, sie gleichen aber mehr Ruinen als bewohnbaren Orten. Auch gibt es Zäune, denen man jedoch nicht ansieht, was sie eingrenzen. Für Boehm sind das vertraute Szenerien, sie fühlt sich, schreibt sie im Nachwort des Bandes, darin geborgen. Erträgt die Einsamkeit. Weiß, wie weit sie sich hinauswagen kann. Es ist ihr Können als Fotografin, ihre Kunst, dass sie ihre Betrachter nie im Stich lässt, sie nie in dem alles dominierenden Weiß aussetzt und hilflos zurücklässt. Sondern die Hoffnung, dass da irgendwo etwas sein muss, in jeder ihrer Aufnahmen befeuert und immer auch belegt. Die Ahnung einer halb vom Schnee verwehten Straße oder sogar ein Lkw, dessen Scheinwerferlicht kaum merklich durch den Nebel glimmt. Auf einem der Bilder, wenn man es lang genug betrachtet, erkennt man sogar den Ansatz eines Regenbogens.

Boehm zeigt einen Begriff von Winter, den man sich in Mitteleuropa nicht macht, unabhängig von der Klimaerwärmung. In einer Landschaft, die noch etliche Breitengrade entfernt ist von der nördlichen Polarregion. Und in der Menschen dauerhaft sesshaft sind und Landwirtschaft betreiben. Szenerien, die das wenige Licht nahezu komplett reflektieren, sodass die Kamera sich schwertut, Kontraste festzustellen. Angela Boehm arbeitet sie jedoch akribisch heraus, inmitten von Schneestürmen, in denen die Landschaft ihre Gestalt nahezu verliert. Obwohl die Winde toben, ist auf den Fotografien kaum eine Dynamik zu erkennen, selbst die Krähenvögel scheinen, obwohl in der Luft, wie eingefroren. So entsteht ein Eindruck tiefer Ruhe. Und, tatsächlich, Neid auf die Fotografin, die sich dieser Naturgewalt, diesem intensiven Erleben ausgesetzt hat.
Angela Boehm: Minus 30. Hartmann Books, Stuttgart 2025. 112 Seiten, 55 Euro.