San Franciscos Chinatown:Dim-Sum verleiht Flügel

Hühnerfüße und frische Wasserkastanien statt McDonald's: Ein geführter Spaziergang durch San Franciscos Chinatown revidiert so manches Klischee und der Besucher kommt der Seele des Viertels auf die Spur.

Jonathan Fischer

Jetzt etwas gegen den kleinen Hunger zwischendurch: einen Hamburger, Chicken Nuggets oder eine Tüte Fritten. Fast überall auf der Welt ist es kein Problem, das zu bekommen, auch in San Francisco prangen die Leuchtzeichen der Fastfood-Ketten an jeder Straßenkreuzung. Nur hier nicht!

Ein kleines, drei Häuserblocks breites und acht Häuserblocks langes Stadtviertel leistet offensichtlich noch Widerstand. Zwischen spitzgiebeligen Tempelfassaden, Jadeschmuck-Läden und Parkbank-Masseuren mit bunten Schautafeln - zehn Dollar die Nackenmassage, zwanzig Dollar für Schröpfen - wuselt es nur so vor bunten Schriften und Zeichen.

Doch nirgends die vertrauten Leuchtreklamen. "Der McDonald's an der Grant Street", sagt die siebzigjährige Dorothy Quock schadenfroh, "musste vor ein paar Jahren wieder schließen. Wir Chinatown-Einwohner wollten dort nicht essen gehen."

Zwei Stunden lang ist die weißhaarige Chinesin in ihren traditionellen Samtschuhen durch das ehemalige Bar- und Rotlicht-Viertel getrippelt. Es ist die größte chinesische Siedlung jenseits des Pazifiks. Man ist ihr in den Ma-Tsu-Tempel mit seinen knallbunten Gottheiten gefolgt, hat Räucherstäbchen entzündet und Kubikmeter getrockneter Seepferdchen, Seesterne und Algen in den Apotheken bewundert. Man hat sich fremdartige Schriftzeichen übersetzen lassen, Kalligraphie-Pinsel und Jadefiguren befühlt, hat in den Auslagen der Gemüsehändler Lotuswurzeln, Ingwer, Wasserkastanien und Süßkartoffeln ausgemacht.

Und jetzt ist da nur noch eines: Hunger. Schon die ganze Zeit strömen aus Restauranttüren und Kücheneingängen die verlockenden Gerüche von würzig mariniertem Rindfleisch, gegarten Krabben und süßsaurem Bambusgemüse. Wann darf man endlich die Essstäbchen in eine Schale mit duftendem Reis stoßen? Einen der mit Hühnerfleisch und Pilzen gefüllten Hefeklöße probieren? Oder wenigstens ein Krabben-Lauchbällchen einwerfen?

Warum erst zum Nachtisch?

Leider ist Dorothy Quock noch längst nicht am Ende mit ihrer Tour. Und wer die Geheimnisse von Chinatown verstehen will, muss immer ganz nahe an der eloquenten kleinen Dame dran bleiben, wegen des Moped-Lärms in den Gassen, dem süßen Schanghai-Pop, der aus den Ladenfronten strömt und dem Klicken und Klappern des Brettspiels Mahjongg, das aus halb geöffneten Türen und Fenstern dringt.

Und selbst als das kulinarische Finale endlich auf dem Tisch des "Four Seas Restaurant" steht, fragt die Touristenschar unverzagt weiter: Darf man die mit süßem Bohnenmus gefüllten Sesamrollen erst zum Nachtisch essen? Besser ja. Und ist es unhöflich, einfach mit dem Finger auf das gewünschte Essen zu zeigen? Nein - schließlich schieben die Kellner ihre mit Speisen überfüllten Wägelchen in atemberaubender Geschwindigkeit an den Gästetischen vorbei und sagen die Gerichte nur auf Chinesisch an.

Die "Wok-Wiz"-Tour durch Chinatown revidiert so manches Klischee, denn die quietschbunten, mit Ornamenten überladenen Gassen waren für die Einwohner aus der Generation von Dorothy Quock noch alles andere als ein Vergnügungsviertel. "Wir Kinder putzten damals Schuhe oder halfen unserer Mutter in der Levi's Jeans Manufaktur. Sie bekam damals zwei Cent für jedes Knopfloch."

Dim-Sum verleiht Flügel

Wo Touristen heute Jade-Figuren und Kimonos kaufen, herrschten bis vor einem halben Jahrhundert Ghetto-ähnliche Zustände. Dorothy, deren Vater in den 1920er Jahren aus China in das dort "Goldberg" genannte Kalifornien emigrierte, hauste mit ihrer Familie in einem Zimmer mit Etagen-Bad und wurde in der Schule bestraft, wenn sie es wagte, Chinesisch zu sprechen. Dennoch dachte niemand daran wegzuziehen: Das Gesetz erlaubte den Immigranten keinen Handel außerhalb Chinatowns - was dazu führte, dass für neue Schaufenster und Geschäfte immer kleinteiligere Gassen angelegt wurden.

"Sehen sie diese Junggesellen dort?", fragt Quock im Portsmith Square Park und deutet auf eine vermeintliche Postkartenidylle: etliche Gruppen älterer Männer, die auf umgestülpten Kartons Go-Steine oder Pokerkarten herumschieben. "Das ist ihr Wohnzimmer. Bis 1965 durfte niemand seine Familie mitbringen, und so hausen sie noch heute in Hotelzimmern."

Wenn die Frau in der Mandarinjacke heute Touristen die Seele von Chinatown näherbringt, dann hat das auch mit dem neu erwachten Stolz der chinesischen Gemeinschaft zu tun und einem Bewusstsein für die Gefährdung der eigenen Kultur: "Warum sollte ich die Menschen zu den Myriaden von Kamerageschäften und Souvenirständen führen, die die Grant-Street verschandeln", sagt Quock und sucht lieber die paar verbleibenden Familienrestaurants und Kramerläden auf.

Gefangene im Lotossitz und blutige OP-Szenen

Dort übt sie mit ihren Gästen nicht nur chinesische Grußformeln, sondern stellt den Ladeninhabern die Tourmitglieder einzeln vor - samt Herkunftsland und Beruf. "Diese Leute kommen nie aus ihrem Viertel heraus und hätten sonst keine Chance, jemals einen Niederländer, Schotten oder Brasilianer kennenzulernen."

Gegründet hat "Wok Wiz" die Köchin Shirley Fong-Torres vor einem Vierteljahrhundert: Schüler, die bei ihr daheim Kochkurse nahmen, löcherten sie regelmäßig mit Fragen - über Feng-Shui, chinesische Schriftzeichen und die Geschäftsauslagen in der Nachbarschaft. Bis sie beschloss, ein paar Ortsansässige zu engagieren und die Geschichtsschreibung ihres Viertels selbst in die Hand zu nehmen: So erfährt man von Dorothy Quock, dass die Chinesen schon vor den Europäern in San Francisco waren, nämlich um 495 vor Christus. Das sollen Steinanker belegen, die man in der Bay Area gefunden hat.

Sie deutet auf unscheinbare Hauseingänge zwischen T-Shirt-Verkäufern und Jade-Schnitzern, wo sich die Aktivisten des "Chinese Affirmative Action Office" treffen. Und sie erzählt stolz davon, dass gerade die erste chinesische Frau als Polizeioffizier eingesetzt wurde.

Politische Zeichen überall. Wer sie sehen will, der entdeckt sie an den unscheinbarsten Ecken Chinatowns: etwa die Bronzefigur neben dem Spielplatz, die an die Opfer des Massakers von Tiananmen erinnert oder die "Free-China"-Anstecker.

Und was auf den ersten Blick wie ein bunter Karnevalsumzug durch das Viertel anmutet, erweist sich auf den zweiten als Demonstration von Falun-Gong-Anhängern. Auf den Umzugswagen sind Schreckens-Szenarien aus China nachgestellt, zum Beispiel geknebelte Anhänger dieser Religionsgemeinschaft, Gefangene im Lotossitz und blutige OP-Szenen, in denen Falun-Gong-Anhängern zwangsweise Organe entnommen werden.

Keine Kompromisse in der Küche

Dazu spielen Trommelgruppen eine süßlich-schaurige Marschmusik. Es ist der Traum vom anderen, demokratischen China, in dem die Kulturen verschmelzen können. Davon zeugen die chinesischen Hip-Hop-Nummern, die aus vorbeifahrenden Jeeps tönen oder die Tatsache, dass sich Dorothy Quocks Familie nach dem samstäglichen Besuch des buddhistischen Tempels am Sonntag früh in der chinesisch-lutherischen Kirche wiedertrifft.

Nur was die Küche betrifft, lässt die energische Seniorin keine Kompromisse gelten: "Wer geht denn nach Chinatown essen, um die üblichen Frühlingsrollen zu bestellen?" Dann doch lieber mal Hühnerfüße probieren. Oder frische Wasserkastanien.

An den zur Rechnung gereichten Glückskeksen aber hat sie nichts auszusetzen. Schließlich stammen sie aus einer kleinen Fabrik in der Nachbargasse. "Eine japanische Familie hat sie 1893 in Chinatown erfunden, als Teegebäck. Damals ahnte noch niemand ihren weltweiten Siegeszug". Was steht auf dem englisch bedruckten Zettelchen? "Jedes Glück braucht seine Zeit".

Solange die Kellner mit ihren Wägelchen um die Tische kurven, der Duft von Ingwer, Minze, Krabben und Dim-Sum-Klößchen in der Luft liegt, braucht das Viertel die Konkurrenz von Hamburger-Bratereien nicht zu fürchten

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