Russland: Hochgeschwindigkeitszug:Ein Wanderfalke auf Schienen

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Erstmals können Reisende die legendäre Bahnstrecke zwischen Moskau und St. Petersburg in knapp vier Stunden zurücklegen.

F. Nienhuysen

Lewis Carroll fühlte sich fast wie seine Alice im Wunderland, in einer engen Welt der Absurditäten. Der englische Schriftsteller nahm am 2. August 1867 in St. Petersburg den Zug um 14.30 Uhr, er kaufte für zwei zusätzliche Rubel Schlafkarten, "die den Schaffner dazu veranlassten, einen umständlichen Beschwörungszauber vorzuführen: Was die Rückenlehne gewesen war, drehte sich nach oben und wurde zur Bank; Sitze und Armlehnen verschwanden; Polster und Kissen kamen zum Vorschein - und schließlich legten wir uns auf die besagten Bänke, die sich in bequeme Betten verwandelt hatten".

So ungefähr muss es ausgesehen haben, als der lang erwartete Zug aus Moskau erstmals in St. Petersburg einfuhr. (Foto: Foto: Getty Images)

20 Stunden später war Carroll in Moskau. Einen Tag und eine Nacht brauchte er also für 650 Kilometer, er stieg auf die Plattform am Ende des Wagens und genoss "eine herrliche Aussicht über die Gegend, die wir durchflogen".

250 Kilometer pro Stunde

Von diesem Freitag an fliegt ein neuer Vogel zwischen Moskau und St. Petersburg. Er heißt Sapsan, der Wanderfalke, ein Hochgeschwindigkeitsvogel, der mit weiß-rot-blauem Rumpf über die Schienen saust.

Aber die herrliche Aussicht? Sie gilt nun vor allem dem modernen Innendesign, dem "Audio-Video-Modul", wie es in einer Werbung heißt, den Info-Schirmen, den druckfrischen Zeitungen, den Notebooks, die bequem angeschlossen werden können.

Denn was sieht man schon noch von den Feldern, den Birken, den Dörfern, den Menschen, wenn der Zug mit deutscher Technik und bis zu 250 Kilometern pro Stunde durch die Landschaft schneidet? Mit wem soll einer noch ins Gespräch kommen wollen, wenn die Fahrzeit zusammenschnurrt auf 3 Stunden, 45 Minuten?

Moskau und Petersburg, die alten Rivalen, die Hauptstadt und ihre Vorgängerin, sie werden enge Nachbarn.

27 verschiedene Züge fahren täglich allein von Moskau nach St. Petersburg, sie heißen Jugend, Wolga, Aurora, doch der Wanderfalke überflügelt nun alle. Die meisten brauchen zwischen acht und neun Stunden, und es sind schon immer die Zugfahrten gewesen, an denen die gewaltige Ausdehnung Russlands spürbar war.

Moskau - St. Petersburg, eigentlich ein Katzensprung auf der Landkarte, im Vergleich zur Ost-West-Ausdehnung, zum Wochenerlebnis auf dem Weg bis in den fernen Fernen Osten. Und dennoch eine längere Reise seit 1851, als die Nikolaibahn erstmals die Städte miteinander verband.

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:Da macht man was mit

Allerhand, was unsere User auf ihren Zugreisen so alles erlebt haben. Eklig, rüpelhaft, aber auch unterhaltsam und erfreulich - ein Best of der Zuschriften.

Doch schon immer galt es auch, Zeit zu nutzen und Geld zu sparen. Beliebt bei jungen Touristen und vielen Russen ist eine Fahrt mit einem der rüttelnden Nachtzüge, die mit dem morgendlichen Tee endet.

Schnellst-Züge
:Tiefflug auf der Schiene

Weltweit wächst das Netz für Hochgeschwindigkeitszüge - neue Technik soll mehr Sicherheit bringen soll.

Der Schnellzug Newskij-Express, seit einigen Jahren tagsüber im Einsatz, ist bisher die modernste Schienenvariante gewesen; er hat einige Fahrten auf etwa fünf Stunden verkürzt. Hat sie zu einem Nonstop-Rausch gemacht und so vor allem für Geschäftsreisende zu einer Alternative zum Flugzeug.

Mehr als 50 Maschinen fliegen pro Tag von Moskau in Russlands zweitgrößte Stadt. Nur etwa eine Stunde dauert die Reise, doch manchmal dreimal so lange die Fahrt zum Flughafen.

Der neue Hochgeschwindigkeitszug dürfte nun erst recht zur ernsthaften Konkurrenz der Fluglinien werden. Etwa 75 Euro kostet die klimatisierte Fahrt, 120 ein Ticket für die 1. Klasse, dann muss man nicht einmal ein eigenes Hühnchen mitbringen. Eine warme Mahlzeit ist eingeschlossen.

Furcht vor Terroranschlägen

Doch für manchen Reisenden dürfte auch Unbehagen mitschwingen: Vor knapp drei Wochen entgleisten auf dem Streckenabschnitt zwischen den Gebieten Twer und Nowgorod durch eine Explosion drei Wagen des Newskij-Express. 26 Menschen starben, Dutzende wurden verletzt.

Ein Terroranschlag, vermuten die Behörden, der nicht nur schreckliches Leid erzeugt, sondern auch die ganze Verwundbarkeit offengelegt hat auf Russlands unermesslichen Strecken.

180 bewaffnete Offiziere bewachen den Verkehr zwischen Moskau und St. Petersburg, den wichtigsten in Russland. Im Schnitt ein Mann für vier Kilometer, dazu die Überwachungskameras, das Versprechen der Russischen Eisenbahngesellschaft RSchD, "noch zusätzliche technische Kontrollmittel einzusetzen", und doch: "Sie müssen verstehen, dass es schwer ist, 700 Kilometer abzudecken", sagte Alexander Bobreschow, der Vizepräsident der RSchd.

Trotzdem werden die Metropolen in Russland weiter zusammenwachsen. Geplant ist bereits eine Schnellverbindung zwischen Moskau und Nischnij Nowgorod. Der Rhythmus wird sich beschleunigen, und irgendwann wird man vom Westen bis zum Osten des Landes nur noch fünf Tage brauchen, vier, drei, zwei, und keine russische Hausfrau wird mehr den Fernzug abpassen, um an einem Streckenhalt geräucherten Fisch zu verkaufen, frische Kartoffeln und selbstgebackenen Kuchen. "Für mich ist die Eisenbahn ein Zauber, ein magischer Genuss", schrieb einmal der Schriftsteller Nestor Kukolnik. Er wird immer kürzer.

© SZ vom 18.12.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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